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Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich - Gesamtedition (German Edition)

Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich - Gesamtedition (German Edition)

Titel: Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich - Gesamtedition (German Edition)
Autoren: Angelika Hesse
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Kassette direkt bis zur finalen Tanzszene vor: Es ist Mucksmäuschen still im Saal; bis auf Baby verlassen alle die Bühne; das Licht dämmt sich; Jonny entledigt sich seiner Lederjacke; seine muskulöser Oberkörper wird durch das eng anliegende, kurzärmelige Hemd betont; sein zu kurz geratender Cousin legt hektisch eine Platte auf, hängt Jonnys Jacke an den Haken; die ersten, langsamen Takte mit der tiefen Stimme von Bill Medley erklingen; Jonny geht auf Baby zu, macht eine lockende Fingerbewegung a la „Komm her zu mir“; der Spot richtet sich auf die beiden Liebenden; er umfasst ihre Taille; beugt ihren Oberkörper in einer Welle nach hinten; ein Raunen geht durch den Saal; er stellt sich hinter sie; legt ihren Arm um seinen Hals; deutet einen kurzen zärtlichen Kuss an und, noch ehe sie diesen erwidern kann, startet der schnelle Teil des Liedes und er wirbelt sie mit einer schnellen Bewegung herum.
     
    Genau das ist der Gänsehaut Moment, der bei mir immer noch zieht. Und ich wollte das Mädchen in dem rosa Kleid sein, was von diesem gutgebauten Typ in Schwarz über die Tanzfläche gewirbelt wird. So etwas Romantisches ist mir in neununddreißig Lebensjahren nicht einmal passiert.
     
    In der Tanzschule Bernstein, in der Linda und ich damals Standardtänze lernen wollten, herrschte notorischer, männlicher Tanzpartnermangel. Anstelle von großgewachsenen, hübschen Jonnys forderten pickelige Jungs mit schlechter Haltung zum Tanz auf.
     
    „Oooh“, jammert Linda als der DJ anschließend „Man in the mirror“ auflegt. Sie wirft mir einen traurigen Blick zu.
    Michaels Tod traf uns beide ins Mark. Bei der live übertragenen Trauerfeier im Staples Center habe ich Rotz und Wasser geheult und mich im tiefsten Trauershock befunden. Warum quält uns der DJ so? Ist das hier eine 80er Jahre Party oder Totensonntag? Wenn er jetzt noch Whitney oder Falco auflegt, werde ich ihn über seinen DJ Pult ziehen und fragen, was das soll.
     
    „Ich geh nochmal Nachschub holen“, meint Linda und klopft mir aufmunternd auf den Rücken. Mir rinnen hicksend ein paar Tränen die Wangen hinunter, eine für Patrick, eine für Michael, eine für Whitney und eine dafür, dass meine Jugend vorbei ist und dass, ohne jemals von einem heißblütigen Kerl den Mambo beigebracht bekommen zu haben. Die Filmindustrie hat mich ein ganzes Leben lang verarscht. Wo waren denn die ganzen Jonnys, Mavericks und Mayos in den letzten Jahren? Bernd war nicht mal bei der Bundeswehr, T5 wegen der Bandscheibe. Ich halte viel vom Wehrdienst. Dort lernen Männer nicht nur Disziplin und Ausdauer, sondern in erster Linie fürs Leben. Zum Beispiel wie man vernünftig ein Bett bezieht. Ein Defizit bei Bernd, mit dem ich nun klarkommen muss.
     
    Aber ich will mich nicht beschweren. Wenn ich sehe, was hier noch an altersgemäßem Material für Linda rumläuft, bin ich mit Bernd gut bedient. Vor uns steht ein Übriggebliebener, Mitte Vierzig, der erfolglos versucht sich von seiner jugendlichen Seite zu zeigen. Die zu kurz geratenen Beine stecken in eine dieser furchtbaren Designerhosen mit markanten, gelben Nähten. Unter dem leichten Bierbauch spannt ein Schlangenlederimitatgürtel mit einer, nicht minder auffälligen, Buddha-Figur Schnalle. Sein weißes Poloshirt, vermutlich ein Plagiat aus der Türkei, ist übersät mit Bierflecken. Krampfhaft sucht er Katis Nähe. Tänzelnd bewegt er sich auf sie zu und versucht sie mit seinem Blick zu hypnotisieren. Kati ignoriert den Störfaktor, doch als er sie immer dreister antanzt, dreht sie ihm demonstrativ den Rücken zu. Der Störfaktor studiert die Beschriftung auf ihren Rücken, überlegt nicht lang und tippt ihr auf die Schultern. Man braucht keine große Vorstellungskraft um zu erahnen, was er nun von sich gibt. „Das ist aber ein schöner Name“ oder „steht Kati für Katharina?“ oder „bist du ein w ildes Kätzchen?“. Irgend sowas Blödes wird er sagen, mehr Einfallsreichtum trau ich ihm nicht zu. Kati lässt ihn abblitzen und nach ein paar eindeutigen Handbewegungen ihrerseits, dreht sich der Kerl weg und zuckt gleichgültig die Schultern.
     
    Linda taucht schwankend auf, drückt mir ein neues Glas in die Hand und verschüttet die Hälfte des Biers ausgerechnet vor die Füße von Störfaktor. Der erkennt sofort sein neustes potenzielles Goal und wirft ihr einen gespielt, entsetzten Gesichtsausdruck zu. Dabei macht er eine dämliche Miene, eine Mischung aus weit aufgerissenen Augen und gerunzelter
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