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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Autoren: Vlada Urosevic
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dem Mittagessen in lange Abende. Noch bevor der Tisch abgeräumt war, fanden sich schon die Verwandten ein und erfüllten das Zimmer mit dem Geruch nach feuchter Wolle, durchnässten Schuhen und Tabak. In der warmen Küche voller Essensdampf nahmen nebulöse und langatmige Gespräche ihren Lauf, in denen der russische Wanderprediger Rasputin, ein Kriegsschiff mit dem aristokratischen Namen Graf Spee, die Romane des Polen Przybyszewski und die Puddings von Doktor Oetker eine Rolle spielten. In unserer Ecke warteten wir auf den Anbruch der Nacht und das Erscheinen des pfeifenden Hundes.
    Und während wir darauf warteten, dass er sich zeigte, redeten wir über unseren verschwundenen Onkel Jakov, spekulierten über seinen möglichen Verbleib in den unterschiedlichsten Erdteilen und über die Rolle, die er in den großen Geschehnissen des Krieges ganz sicher spielte. Wir standen vor der Wandkarte und steuerten sein Unterseeboot zwischen den Walrössern und Robben hindurch, umschifften die auf den Eisbergen sitzenden großen Polarbären und lenkten Onkel Jakov in sichere Häfen, wo vor Schlitten gespannte Rentiere warteten. Dann erschien der pfeifende Hund: Seinedunkle Silhouette tauchte hinter irgendeinem Schornstein auf und wir vernahmen seinen durchdringenden, rasiermesserscharfen Pfiff.
    Nacht für Nacht warteten wir auf sein Erscheinen. In der Küche war es warm; wir verheizten bereits Lateinwörterbücher, Gartenratgeber, Jahresbände humoristischer Zeitschriften und ausgesprochen schöne kolorierte Ansichtskarten. Ferne Städte brannten mit bläulichem Schein, von transparentblauen Seen platzte die Farbschicht, aus Grünanlagen stieg kaum sichtbarer schwefelig-grüner Rauch. Mittlerweile zerbombte Kathedralen krümmten sich in unglaublichen Verrenkungen, und prachtvolle Barockgebäude, die in diesem Moment vielleicht tatsächlich in Flammen standen, zerfielen zu Asche. Am besten brannten die alten Panoramaansichten von Provinzstädten. Die Bilder mit Motiven von verschneiten Landschaften, auf denen die Bäume von einem Glitzerpuder aus zerstoßenem Glas bedeckt waren, zischten und qualmten. All dies ließ die Küche warm werden, und dennoch froren die Fenster immer ein bisschen zu: An den Scheiben bildeten sich Polargebiete, nadelspitze Eiskristalle wuchsen zu rätselhaften Landschaften zusammen, aus denen es keinen Ausweg gab. Wir tauten sie mit unserem Atem auf, und durch die dunklen Kreise erspähten wir unseren pfeifenden Hund – er kam von den verschneiten Ebenen her, war mit steifen Beinen über schwarze Bäume und Schützengräben hinweg bis zu uns geschwebt.
    Von den Erwachsenen war nur Tante Milena in das Geheimnis seines Erscheinens eingeweiht – sie war selbst fast noch ein Kind, hatte gerade erst das Gymnasium beendet, und wir befanden sie für würdig, ihr unsere Entdeckung anzuvertrauen.Über uns gebeugt, mit den Brüsten unsere Schultern berührend, schaute sie mit uns aus dem Fenster und quietschte leise auf, wenn sich die dunkle Silhouette über den schneebedeckten Dächern zeigte. Während wir auf den pfeifenden Hund warteten, unterhielten wir uns mit ihr über Onkel Jakov. Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen begannen zu funkeln, und wir entwarfen gemeinsam eine Marschroute, auf der Onkel Jakov, den Feind überlistend, sich zu uns durchschlagen würde.
    Von den Tagen blieb immer weniger übrig – die Dämmerung verfing sich nun schon am Vormittag in den Zweigen, kauerte noch von der vergangenen Nacht in den Ecken, und der erloschene Nachmittag starb schon, bevor er überhaupt geboren werden konnte. Die Verwandten verließen das Haus  kaum noch. Es gab immer weniger Anlässe, die sie in die Stadt zwangen, und die Küche war nun der einzige Ort, an dem es sich noch leben ließ. Manche blieben sogar über Nacht – wenn wir morgens aufstanden, waren sie schon da, unrasiert, mit dunklen Augenringen, eingehüllt in Wolken aus Tabakrauch. Die Onkel lösten Kreuzworträtsel in alten Zeitungen und erzählten die Inhalte historischer Romane nach, die sie vor langer Zeit gelesen hatten. Später spielten sie Bingo, wobei sie die gezogenen Zahlen mit weißen Bohnen abdeckten. Wenn die Vierundvierzig gezogen wurde, warf uns Tante Milena einen verschwörerischen Blick zu – nur wir allein wussten, was sich hinter dieser Zahl verbarg und was über ihre Bedeutung aufzuschreiben versäumt worden war.
    Von Onkel Jakov hörten wir nichts. Doch entdeckten wir Neuigkeiten über ihn in den Frontberichten, in
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