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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition)
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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und zu wenig sachorientiert. Machtpolitik entsprach schon viel eher meinem Naturell. Weil es einfach Spaß macht, Macht zu besitzen. Weil ich es schon immer faszinierend fand, zu gestalten und Verantwortung zu tragen.
    Mit drei Jahren verfolgte ich meine erste Bundestagsdebatte. Ende der sechziger Jahre lief tagsüber kaum etwas im Fernsehen, weil es keine Arbeitslosen gab, die das hätten anschauen können. Mittwochs aber wurde ab der Mittagszeit live aus dem Deutschen Bundestag in Bonn übertragen. Was meine Großmutter regelmäßig veranlasste, den wohnzimmerschrankgroßen Telefunken-Fernsehkasten anzustellen und die Lautstärke voll aufzudrehen, damit sie in der Küche beim Kuchenbacken bequem den Debatten lauschen konnte. Gebannt saß ich vor dem Gerät und verfolgte mit, wie sich dicke, schwarz-weiß flimmernde Männer gegenseitig neue Namen gaben. Sie riefen «Brunnenvergifter!», «Quatschkopf!», «Übelkrähe!», «Alte Giftspritze!» oder «Sie Düffeldoffel da!». Während die Politiker sich beschimpften, brüllte die Großmutter aus der Küche zurück: «Oh, du Arschloch!», «So ein Tagdieb!» oder «Du Lumpenhund, du musst grad das Maul aufreißen!». Dieser fruchtbare Widerstreit der Meinungen und die stets an der Sache orientierte Auseinandersetzung haben mein Demokratieverständnis zutiefst geprägt.
    Mein beachtliches Talent für die «Kunst des Möglichen», wie mein Vorbild Otto von Bismarck die Politik definierte, zeigte sich bereits im Kindergarten. Kaum war ich eingezogen worden, analysierte ich die bestehenden Verhältnisse im Geschwister-Scholl-Kindergarten und entdeckte schnell mein erstes großes politisches Leitmotiv: Integration. Penibel achtete ich darauf, dass ich bei Kindergeburtstagen, Eisdielenbesuchen und Weihnachtsfeiern an vorderster Position in die Ausgabeschlange integriert war; dass ich beim fröhlichen Spiel immer auf der Gewinnerseite war, selbst wenn ich dafür noch im allerletzten Moment die Seiten wechseln musste. Das hatte freilich nichts mit «Verrat» zu tun, den die Jungs von der Verliererseite nicht müde wurden mir zu unterstellen – sondern mit strategischer Positionierung und proaktiver, zielführender Umsetzung.
    Nachdem ich mir im Alter von vier Jahren mit Hilfe von Gesetzestexten das Lesen beigebracht hatte, schmökerte ich unaufhörlich in meinem Lieblingsbuch, einem türkisblauen, quadratischen Bändchen, auf dem mit ungelenker Schreibschrift der Titel Meine Adenauer-Memoiren appliziert war. Stunden, Tage, Wochen konnte ich in dieser launigen Scherzbiographie aus der Feder des Karikaturisten Hans-Joachim Gerboth blättern, die er unter dem superkomischen Namen Karlchen Schmitz veröffentlicht hatte. Das Buch, ein Bestseller der sechziger Jahre, war durchgehend in Schreibschrift gekrakelt, nebst roten Korrekturanmerkungen eines imaginierten Lehrers. Am lustigsten waren die vielen Karikaturen, obwohl ich deren Sinn meist nicht verstand. Ich zeichnete verbissen immer wieder den charakteristischen Adenauerschädel ab, so lange, bis ich ihn perfekt draufhatte. Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß und Willy Brandt konnte ich bereits aus dem Gedächtnis, die waren einfacher. Kugelkopf: Erhard. Kastenkopf: Strauß. Gurkenkopf: Brandt. Der birnenförmige Kohl war noch nicht erfunden. So zeichnete und studierte ich die politische Sittengeschichte der Bonner Republik und das Leben des Alten aus Rhöndorf. Dass er erst mit dreiundsiebzig Jahren zum Bundeskanzler gewählt wurde, gab mir zu denken. So lange wollte ich nicht warten.
    Ich holte die Menschen schon immer dort ab, wo sie gerade waren, zum Beispiel meine Freundin Andrea Ahnert, die in der Lessingstraße wohnte, oder Andreas Nürnberger aus der Neckarsulmer Straße. Das war für mich gelebte, integrative Bürgernähe. Auch in der Grundschule fühlte ich mich ganz dem Integrationsgedanken verpflichtet. Schnellstmöglich integrierte ich mich in die Bande der Stärkeren. Denen fiel es leicht, die blöden Idioten von der anderen, schwächeren Bande zu vermöbeln. Doch betraf die Integration noch viele weitere Lebensbereiche. So hatte ich zum Beispiel stets ein offenes Ohr für die Sorgen meiner nicht deutschen Schulkameraden, die Kinder der ersten Migrantengeneration. Ob Türke, Spanier, Grieche oder Jugoslawe – für mich waren sie alle gleich, für mich waren sie Ausländer. Wenn sie mir von ihren Schandtaten berichteten, meldete ich das sofort an den Lehrkörper weiter. Dragan, Hakan und Trajan kamen allerdings
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