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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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tritt dem Mann entgegen. »Verschwinde! Du hast
hier nichts zu suchen! Bleib im Kloster, wo du hingehörst!« Sie wendet sich an
die Touristen. »Fotografieren Sie, fotografieren Sie! Es ist ein Museum, Sie
haben Eintritt bezahlt.«
    »Geld!«, ruft der Mönch. »Gott ist nicht käuflich!«
    »Verschwinde! Ich rufe den Wachschutz!«
    Der Mann gibt widerwillig den Weg frei. Verschreckt drücken sich die
Touristen an ihm vorbei.
    »Hören Sie nicht auf ihn«, zischt die Reiseleiterin. »Ein
Verrückter.«
     
    Ich fing Natalja in der Mittagspause ab, nachdem sie ihre
Reisegruppe verabschiedet hatte. Sie war um die sechzig, eine energische Frau
in einem voluminösen Nerzmantel. Ihre Stimme hatte den Umfang eines
Rotarmistenchors. Selbst wenn sie flüsterte, war ihr Russisch rabiat und
schneidend. So spricht jemand, dachte ich, der jahrzehntelang Schulklassen
übertönen musste.
    Wie wir auf Gott kamen, weiß ich nicht mehr. Natalja versicherte
mir, dass sie nie geglaubt habe. Gleichzeitig sprach sie so bewegt von den
Wundern der Höhlen, dass es mir schwerfiel, ihr die Atheistin abzunehmen. »Hast
du die Mumien gesehen? 118 Heilige! In den Höhlen wurden Tausende von Mönchen
begraben, und bis heute kann kein Wissenschaftler erklären, warum die einen
verwest sind und die anderen nicht. Ein-hun-dert-acht-zehn! Wo gibt es das
sonst?«
    Sie erzählte von Ikonenwundern, von mysteriösen Heilungen. Ich wurde
das Gefühl nicht los, dass sie im Grunde ihres Herzens längst die Seiten
gewechselt hatte. Dass sie es nicht zugab, auch vor sich selbst nicht, schien
komplizierte Gründe zu haben. Ihr Leben lang hatte sie das Kloster als Museum
betrachtet. Dass inzwischen wieder Mönche hier lebten, war ihr suspekt. Mönche
mochten etwas von Wundern verstehen, aber was verstanden sie von Brandschutz,
von Ikonenrestaurierung, von Reisegruppen? Wissen Mönche, wie man eine
Schulklasse übertönt?
    Daher rührte auch der Streit, den ich am Vormittag beobachtet hatte.
»Der Abt schickt seine Leute ins Museum, um die Touristen zu vergraulen«, sagte
Natalja. »Am liebsten würden sie das ganze Kloster übernehmen.«
    Bisher gehörte ihnen nur die Hälfte. Die Höhlen hatte man den
Orthodoxen im Symboljahr 1988 zurückgegeben, tausend Jahre nach der
Slawentaufe. Der untere Teil des Klosters gehört seitdem der
Russisch-Orthodoxen Kirche, der obere dem ukrainischen Staat. In den Höhlen
herrscht der Patriarch. Im Museum Natalja.
    »Komm«, sagte sie. »Ich zeige dir etwas.«
    Wir überquerten den Klosterhof. Natalja schloss den Seiteneingang
einer kleinen Kirche auf und schob mich ins schummrige Innere. Sie ließ den Arm
durch das Mittelschiff kreisen. Der komplette Innenraum war mit Fresken
ausgemalt.
    »Sieh dir diese Bilder an«, sagte sie. Ihre Augen glänzten. »Das
sind unsere Ikonen. Ukrainische Ikonen.«
    Ich suchte die Wände ab, aber ich entdeckte nichts Ukrainisches. Die
Bilder sahen aus wie europäische Barockfresken. Heilige gestikulierten
schmerzensreich, Tempelhändler flohen mit angstverzerrten Grimassen vor einem
zürnenden Christus. Ich musste an die russischen Ikonen in den Höhlen denken,
an ihre stoischen Blicke, ihre starre Mimik, die versteinerten Segensgesten
ihrer Hände. Der Kontrast zum Gefühlsdrama der Wandmalereien hätte nicht größer
sein können.
    »Sie sehen ein bisschen italienisch aus«, sagte ich vorsichtig.
»Oder holländisch.«
    »Aber sie sind ukrainisch, ukrainisch!«, rief Natalja. »Der
europäische Stil ist es doch gerade, der unsere Ikonen ausmacht! Du redest wie
der Abt! Nicht orthodox, sagt er, nicht kanonisch! Am liebsten würde er hier alles
mit russischen Ikonen übermalen lassen.«
    Nataljas Stimme wurde lauter, bis ihre Wut das gesamte Mittelschiff
füllte. »Weißt du, wie die Russen uns Ukrainer nennen? Kleinrussen! Dabei sind wir die wahren Russen! Wir sind die Nachfahren der Kiewer Rus! Die Moskowiter
haben erst im 18. Jahrhundert angefangen, sich Russen zu nennen – sie haben
unseren Namen gestohlen! Dabei sind sie nicht einmal richtige Slawen, das haben
Wissenschaftler herausgefunden, ihre Gene sind zu siebzig Prozent tatarisch,
finnisch, estnisch …«
    Natalja gestikulierte jetzt so heftig wie die Heiligen an den
Wänden. Es sah aus, als stehe sie im Zentrum eines großen patriotischen Chors,
der unter ihren dirigierenden Handbewegungen das Lied der Ukraine sang.
Schweigend hörte ich zu, bis sie mit einem Satz schloss, den ich kurz zuvor in
einem Zugabteil gehört hatte, wenn
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