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Mein Leben Als Suchmaschine

Mein Leben Als Suchmaschine

Titel: Mein Leben Als Suchmaschine
Autoren: Horst Evers
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wenn man nur frühzeitig mit dem Bescheißen anfängt.

Eine kleine Freude machen

    Als ich kürzlich mit meinem fünfjährigen Kind über den Alexanderplatz ging, entdeckten wir ein paar Meter vor uns plötzlich Wolfgang Völz. Ich zeigte mit meinem nackten Finger auf ihn und sagte zu meinem Kind: »Guck mal, der Mann da vorne, das ist die Stimme von Käpt’n Blaubär, den du doch so gerne magst.« Das macht Eindruck. Das Kind schaut völlig gefesselt zu Wolfgang Völz. Als es ihn nach rund einer Minute immer noch anstarrt, sage ich: »Willst du ihm was Nettes sagen? Der freut sich bestimmt!« Das Kind murmelt: »Weiß nicht.« Aber mich ergreift jetzt der Wahn des Vaters, der seinem Kind unbedingt ein unvergeßliches Erlebnis bescheren will. Sage: »Ach, komm«, das Kind lenkt ein: »Na gut.«
    Wir gehen zu ihm. Ich sage: »Entschuldigung, Herr Völz, Sie sind doch die Stimme von Käpt’n Blaubär, oder?«
    Er lächelt sehr nett: »Ja, das bin ich.«
    »Schön, mein Kind würde Ihnen gerne was sagen.«
    Er lächelt jetzt noch netter zu meiner Tochter. Sie sagt:
    »Ich finde Käpt’n Blaubär ganz toll, vielen Dank, Sie machen das ganz toll. Aber ich habe ein bißchen Angst. Gibt es Käpt’n Blaubär noch, wenn Sie jetzt bald tot sind?«
    Keine Antwort.
    Ich hoffe, Wolfgang Völz hat sich trotzdem ein bißchen gefreut.

Das neue Hemd - oder:
Natürlich gilt die Broken-Windows-Theorie auch für Berlin

    Mein Kioskbesitzer hat ein neues Hemd. Ist ganz schön ungewohnt, morgens in den Kiosk zu kommen, wie jeden Morgen, nichts Böses ahnend, denn was soll auch schon sein, und dann steht auf einmal der Kioskbesitzer da und hat ein neues Hemd.
    Seit vier Jahren gehe ich jeden Morgen in diesen Kiosk. Und auf einmal: ein neues Hemd.
    Habe ihn gefragt, warum. Was das denn nun soll. Das alte sei doch noch gut gewesen.
    Er sagt, im Prinzip schon, aber er hatte das Gefühl gehabt, er sollte mal etwas anderes machen. Etwas Ungewöhnliches, was ihn, den Laden und womöglich auch irgendwie die ganze Umgebung verändert, vielleicht sogar aufwertet.
    Na wunderbar. Mein Kioskbesitzer lockt die Spekulanten in unser Viertel. Gerade von ihm hatte ich das eigentlich am wenigsten erwartet. Aber wenn es nur die Spekulanten wären.
    Erkläre ihm, daß er doch auch Verantwortung trage. Immerhin kämen in seinen Kiosk jeden Tag um die tausend Leute. Wenn die jetzt alle sehen, daß er ein neues Hemd hat, wie werden die wohl reagieren?
    Na logisch, die wollen dann doch auch alle ein neues Hemd. Man weiß doch, wie die Menschen sind. Und wenn er nun diese ganzen vielen neuen Hemden jeden Tag sehen muß, dann kommt ihm sein neues, schickes Hemd bald gar nicht mehr so schick vor. Dann ist da plötzlich wieder diese Leere. Dann muß er wieder nachrüsten.
    Was zunächst nur mal gedacht war als ein unschuldiges, unscheinbares neues Hemd, das fordert bald auch eine neue Hose. Und dann in unerbittlicher Konsequenz neue Schuhe, Manschettenknöpfe, ein fliederfarbenes Jackett, Einstecktücher …
    Und die Kunden natürlich immer hinterher. In kürzester Zeit laufen wir hier alle rum wie die Affen. Wenn diese Spirale einmal in Gang gesetzt ist, kann sie niemand mehr aufhalten.
    Ehe er richtig realisiert, was eigentlich geschehen ist, sitzt er hier schon in seinem Kiosk im Hermelinmantel auf einem samtpurpurfarbenen Thron und verkauft extravagante Kaugummis an Kunden, die sich auf Sänften reintragen lassen und kleiden wie der Erzbischof …
    Aber noch schlimmer als diese ganze ästhetische Dimension sind natürlich die ökonomischen Auswirkungen. Was das alles kostet! In kürzester Zeit wird der gesamte Kiez hier völlig überschuldet sein.
    Mein Kioskbesitzer nickt nachdenklich:
    Ja, da sei schon was dran. So habe er die ganze Sache bislang noch gar nicht betrachtet. Obwohl, so ein seltsam ungewohnt mulmiges Gefühl beim Anziehen des neuen Hemdes habe er am Morgen schon verspürt. Doch nun sei es ja schon passiert. Jetzt könne man doch sowieso nichts mehr machen.
    »Na ja«, versuche ich seine Resignation aufzufangen, »vielleicht wenn Sie es ein wenig bekleckern würden. Dann wäre doch zumindest schon mal keiner mehr neidisch.«
    Habe seitdem einerseits immer ein bißchen ein schlechtes Gewissen, wenn ich morgens in den Kiosk komme und den Besitzer mit seinem bekleckerten Hemd sehe.
    Andererseits aber hat es sich total bewährt. Im gesamten Viertel hat sich trotz des neuen Hemdes meines Kioskbesitzers nichts, aber auch gar nichts
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