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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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nicht, dass Georg und sein Widerstand verleumdet werden.
    Also Berufung beim Kammergericht. Das liegt drei Häuser weiter am Witzlebenplatz. Anneliese stellt sich vor, wie es wäre, einfach in das Gericht zu gehen und die zuständigen Herren einzuladen auf eine Parkbank am Lietzensee und alles in Ruhe zu besprechen. Die Juristen freundlich aufklären über Nazizeit, Widerstand, konspiratives Verhalten. Über die vielen kleinen Tätigkeiten, Botengänge, Geldbeschaffung, Atteste, Verstecke. Den Richtern vor schlagen, nach Havemann andere Überlebende der Europäischen Union wie Frau Rentsch und Frau Grüger und das einzige jüdische Ehepaar, das unter den Geretteten noch mit Namen auszumachen ist, als Zeugen zu laden. Aber die Richter wollen nicht auf Parkbänken sitzen, sie müssen Schriftsätze lesen, sich immer neue Schriftsätze einverleiben.
    Abends auf dem Weg zu Patienten in der Li etzenseegegend in diesem Winter schaut sie hoch zu den Fenstern des riesigen, grauen Gebäudes. Hinter diesen Fenstern, mit Blick auf den See, kann keine Hydra wohnen. Es wird gut gehen, neun Jahre hatte die Hydra ihren Spaß, diesmal geht es gut. Sie glaubt sich gerettet: Bald wird sie ihr Geld haben, werden die Söhne aus der Sippenhaft entlassen und Geld für das Studium kriegen, wird Georg rehabilitiert sein, bald wird sie mit ihrer Anwältin feiern und Schriftsätze wie Urteile ein für alle Mal vergessen.
    Das Kammergericht arbeitet schnell, Termin 9. März 1960. Es möchte keinen Prozess um die Europäische Union führen, es glaubt Frau Groscurth sogar den aktiven Widerstand und die Tarnung mit der NS-Frauenschaft. Die Hydra bescheinigt ihr großzügig, dass sie den von ihr behaupteten Beitrag zur Bekämpfung des Nationalsozialismus geleistet hat. Bei dieser Betrachtung kann auch nicht verneint werden, daß eine nationalsozialistische Verfolgung der Klägerin Vorgelegen hat. Die Hydra gibt sich freundlich, sie rügt nicht einmal den bescheidenen Einsatz gegen die Wiederbewaffnung. Aber den giftigen Atemhauch hat verdient, wer sich damit nur gegen die Bundesrepublik gewandt hat, obwohl in der Ostzone Deutschlands ebenfalls eine Wiederbewaffnung stattgefunden hat. Aus dieser Tatsache läßt sich immerhin schon und zumindest die negative Einstellung der Klägerin gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik entnehmen.
    Weil Frau Groscurth sich für ein Ziel eingesetzt habe, das auch die SED vertritt, hat sie nach Ansicht der Hydra bereits die Grundordnung gefährdet. Mündige Bürger, die im Sinn der Demokratie handeln könnten, kennen die Hydraköpfe des Kammergerichts nicht. Eine Ärztin, die es versäumt hat, im April 1951 die Wiederbewaffnung der Ostzone zu kritisieren, kann im Westen im Frühjahr 1960 keine Entschädigung für den Schaden an Leben und Schaden an Freiheit aus der Nazizeit erwarten.
    Punkt. Revision wird nicht zugelassen.
    Trotzdem wagt der Anwalt, der sie vor dem Gefängnis bewahrt hat, Kaul in Ostberlin, ein Mann der SED und doch ein respektierter Jurist, eine Revisionsbeschwerde beim Bundesgerichtshof. Die wird im Dezember 1960 zurückgewiesen. Die fünf Richter in Karlsruhe entscheiden nicht anders als die 24 Richter der Vorinstanzen.
    Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht, März 1961, ein letzter Versuch Kauls, die Denkfehler der 29 Vorderrichter zu korrigieren. Er wählt das Pathos: Frieden statt Krieg, Völkerfreundschaft statt Völkerhass, Gleichberechtigung statt Herrenmenschen- und angebliches Unter menschen tum zu erstreben - dies bedeutet keineswegs notwendig eine Identifizierung mit sämtlichen politischen Zielen des Sozialismus, wie die große Zahl und die sehr verschiedene Einstellung von Menschen zeigt, die mit vielen humanistischen Auffassungen des Sozialismus übereinstimmen, ohne Sozialisten zu sein. Hierauf beruht es, daß die Beschwerdeführerin nicht Mitglied einer sozialistischen Partei geworden ist. Diese Überzeugung öffentlich zu vertreten, gleich wo, in welchem Gremium, in welcher Versammlung, ist ihr unantastbares Recht, wie es das Grundgesetz normiert. Ihr bei Strafe von Benachteiligungen aller Art zu verbieten, ihre Überzeugung auszusprechen, bedeutet einen elementaren Angriff und Eingriff in ihre Menschenwürde.
    Erwartet Anneliese, erwartet noch jemand, dass sich damit etwas zu ihren Gunsten wendet? Das Argument der Menschenwürde? Der Meinungsfreiheit? Vor dem höchsten Gericht? Im Jahr des Baus der Mauer in Berlin? Na
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