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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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mehr Macht. Ja, es müsse sich diese nehmen! Es müsse aufbegehren, einen richtigen Aufstand gegen die Regierungen der einzelnen Staaten und gegen die Kommission proben, nur so könne das demokratische Defizit, an dem Europa leide, überwunden werden.
    Zum anderen sei die Europäische Union viel zu schnell erweitert worden. Damit müsse nun Schluss sein! Und schon gar nicht dürfe die Türkei Mitglied der EU werden. Nicht nur, weil ihre Bevölkerung schneller wachse als die jedes EU -Landes und die Türkei bald der größte Mitgliedsstaat wäre. Sondern vor allem, weil die Türkei einem anderen Kulturkreis angehöre. Wie wolle man den Marokkanern versagen, was man den Türken gestatte?
    Nein, eine Aufnahme der Türkei oder auch der Ukraine oder gar Weißrusslands, das scheint ihm »ganz abwegig« zu sein.
    Schon die heutige Größe der Union überfordere viele Europäer. Für viele sei die EU ein abstraktes Gebilde, ihr Herz hänge weiter an der Nation. Schmidt hat immer de Gaulles Wort vom »Europa der Vaterländer« gefallen. Der Nationalstaat bleibt für ihn »der bei weitem wichtigste Ankergrund für die politische Selbstidentifikation der Bürger Europas«.
    Allerdings, die Zeit nationaler Währungen ist für ihn vorbei. Helmut Schmidt ist einer der Väter des Euro, und Zweifel an der Gemeinschaftswährung haben ihn nie beschlichen. Sie sei vielmehr »ein wichtiger Schritt nach vorn« für die weitere Integration Europas. Denjenigen, die öffentlich über ein Auseinanderbrechen der Eurozone spekulieren, bescheinigt er fehlende Weitsicht. Schwere wirtschaftliche und politische Verwerfungen seien bei einem Rückfall in nationale Währungen vorhersehbar. Eine »Euro-Krise« gibt es aus seiner Sicht nicht, wohl aber eine sehr ernste Staatsschulden- und Bankenkrise. Die Währung selbst sei nach innen wie nach außen stabiler als der US -Dollar. Und ganz gewiss werde der Euro gemeinsam mit dem Dollar und dem chinesischen Renminbi zu den drei Weltwährungen des 21 . Jahrhunderts gehören.
    Trotz der Erfolge in der Währungspolitik ist Schmidt über die Entwicklung Europas ernüchtert. Die Integration hat aus seiner Sicht mit dem Vertrag von Maastricht 1992 ihren Höhepunkt erreicht – und überschritten. Seitdem stagniere Europa. »Ich bin skeptisch geworden im Laufe der neunziger Jahre. Als ich gesehen habe, dass Frankreich und Deutschland nicht mehr an ein und demselben Strang ziehen wollten.«
    Und doch. Am Zusammenschluss der Europäer, für den er seit sechs Jahrzehnten streitet, hält er mit Leidenschaft fest. Auch wenn er auf die Frage, ob Europa zu dem geworden sei, was er sich 1948 vorgestellt habe, mit einem knappen »Nein« antwortet.
    Zwei Helden, zwei Vorbilder hat der Europäer Helmut Schmidt. Winston Churchill ist der eine, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg Franzosen und Deutsche zur Aussöhnung aufrief und der schon 1946 in Zürich die Vereinigten Staaten von Europa beschwor – zu denen Großbritannien allerdings nicht gehören sollte.
    Der andere ist Jean Monnet, jener Franzose, der ohne Regierungsauftrag die gedanklichen Grundlagen für die deutsch-französische Zusammenarbeit legte und der dem Schuman-Plan zum Durchbruch verhalf. Monnets Vision sei noch heute gültig, schrieb Schmidt 1978 im Vorwort zu den Erinnerungen Monnets. Von ihm könnten die Europäer lernen, »dass wir uns dem hochgesteckten Ziel nicht in großen Integrationssprüngen nähern können, sondern in hartem Bemühen der zähen Wirklichkeit Fortschritte abringen müssen«.
    Aber in seiner Ahnengalerie großer Europäer sind ihm noch zwei weitere Namen wichtig. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der in Japan geborene tschechische Diplomatensohn, Schriftsteller und Politiker, der 1924 die Paneuropa-Union gründete. Und lange vor ihm, Mitte des 19 . Jahrhunderts, setzte Frankreichs großer Schriftsteller Victor Hugo seine Hoffnungen auf die »Vereinigten Staaten von Europa«.
    »Einige wenige Idealisten«, sagt Schmidt, hätten die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses früh gesehen. Aber um ihre Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, habe es nach dem Zweiten Weltkrieg Realisten vom Range eines Churchill und eines Monnet gebraucht. Beide bewiesen aus Schmidts Sicht jene politische Führung, ohne die es in Europa nicht vorangehe. Visionen allein bewirkten nichts. Sie müssten sich mit politischer Entschlusskraft paaren.
    Und mit Geduld. »Die Geschichte hat einen langen Atem. Das epochale Werk der Einigung
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