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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge
Autoren: Keren David
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hervor, um deren Inhalt ich mich noch kümmern muss. Aber das, was ich am liebsten mitnehmen würde, kann man nicht einpacken.
    Unsere kleine Wohnung liegt über einem Zeitungsladen an einer Hauptstraße. Sie ist nichts Besonderes. Wenn die Fenster offen sind, ist der Verkehr so laut, dass wir uns anbrüllen müssen. Aber ich habe ein eigenes Zimmer, auch wenn es klein ist, und wir haben es ziemlich cool gestrichen, nämlich blauviolett, und die Wände sind voller Fußballposter. Außerdem finde ich es schön, wie abends die Sonne durchs Fenster reinscheint. Dann setze ich mich manchmal aufs Fensterbrett und beobachte, was unten auf der Straße so vor sich geht.
    Hier fühle ich mich nie einsam, weil es ringsum Läden und Menschen gibt, und besonders gern höre ich die vielen verschiedenen Sprachen. Dann kommt es mir immer vor, als sei in unserer Straße die ganze Welt versammelt und East London der supercoolste Ort überhaupt, weil die Leute von überall herkommen, um hier zu wohnen.
    |14| Nicki stopft eher wahllos ein paar Sachen in eine Tasche, dann fängt sie wieder an, mit dem Beamten zu diskutieren. »Wir gehen auf keinen Fall für immer weg. Ich habe meine Arbeit und Ty geht auf eine hervorragende Schule.«
    »Das hängt nicht von mir ab«, sagt der Beamte. Und dann: »Was war
das
denn?«
    Wir hören es alle drei: ein Klirren wie von splitterndem Glas. Okay, wir wohnen in einer ziemlich rauen Gegend, aber das Klirren war echt sehr nah. Es kam von unten. Dann riecht es auf einmal süßlich und metallisch   … kein Parfüm   … Ich kenne den Geruch, komme aber nicht gleich drauf.
    »Raus hier!«, ruft der Polizist. »Los, die Treppe runter!«
    Wir hasten die Treppe hinunter und schleifen unsere Taschen hinter uns her. Wir sind noch nicht ganz unten, da knallt es gewaltig. Ich verfehle eine Stufe, das ganze Haus scheint zu wackeln   … dann knackt und knistert es, ein beißender Geruch breitet sich aus   … Rauch steigt auf   … Rauch dringt ins Treppenhaus, aber da sind wir schon aus der Tür raus und stehen draußen in der Nacht.
    Mr Patels Laden brennt. Der Zeitungsladen, auf den er so stolz ist, den er immer so gründlich putzt. Flammen verschlingen sämtliche Süßigkeiten und Zeitschriften, im Schaufenster ist ein Riesenloch und der ganze Bürgersteig liegt voller Scherben. Nicki schreit und hämmert an Türen, klingelt überall und ruft allen Leuten zu, die über den Läden wohnen: »Es brennt! Kommen Sie raus!«
    |15| Ich stehe einfach nur zwischen den Scherben und starre in die Flammen. Haben die, die das getan haben, gewusst, dass wir eine eigene Haustür haben? Und   … wie wären wir sonst hier rausgekommen?
    Unser Polizist hängt am Funkgerät und ruft Verstärkung herbei: »Brandbombe, Zeitschriftenladen   … wir müssen sofort räumen   …« Dann schnappt er sich Nicki, bevor sie noch weiter die Straße runterrennen kann, und sagt: »Lassen Sie das, wir müssen weg hier.« Er schmeißt unsere Taschen ins Auto, wir schieben uns auf den Rücksitz und er braust mit uns davon, gerade als unsere ganzen Nachbarn aus den Häusern gelaufen kommen.
    »Herr im Himmel!«, sagt Nicki. »Was war das bloß?« Sie weint. »Ob die Feuerwehr alle rechtzeitig rausholen kann? Armer Mr Patel! Der Laden ist sein Ein und Alles. Und was ist mit Mrs Papadopoulos? Sie ist taub, sie hat bestimmt nichts gehört   … In manchen Wohnungen wohnen ziemlich viele Menschen in den paar Zimern   …«
    Sie legt die Arme um mich und wir sitzen ganz dicht nebeneinander. Ich kann’s immer noch nicht fassen. Ich war in diesem Laden praktisch zu Hause. Ich hab oft dort rumgehangen, vor allem, wenn Nicki ihre Freundinnen eingeladen hatte und sie Wein getrunken und kitschige DVDs angeschaut haben.
    Mr Patel ist echt nett. Er hat mir Urdu beigebracht und ich durfte mir alle Zeitschriften ausleihen, die ich wollte, bis auf die vom obersten Regal. Ich durfte mir auch die Route fürs Zeitungsaustragen aussuchen, und wenn ich |16| mal einen Rat von Mann zu Mann brauchte, konnte ich mich immer an ihn wenden.
    »Was ist passiert?«, frage ich. Meine zittrige Stimme klingt, als wäre ich zehn. Wie bei einem verängstigten kleinen Jungen. »War das eine Bombe?« Löschzüge sausen an uns vorbei und auf einmal ist die ruhige Nacht voller kreischender Sirenen.
    »Deshalb bringen wir euch ja hier weg«, erwidert der Beamte. »Manche Leute schrecken vor nichts zurück.«
    Ich denke an die ganzen Sachen, die jetzt verbrennen. Alles,
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