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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge
Autoren: Keren David
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Wir fahren ewig. Er sagt uns zwar, wie die Stadt heißt, in der wir ab jetzt wohnen, aber weder Nic noch ich haben je von ihr gehört. Unser neuer Wohnort liegt ungefähr |29| fünfzig Meilen von London entfernt   – weit genug, dass dort nichts los ist, aber auch wieder nicht so weit, dass die Leute irgendwie komisch reden.
    Doug erklärt mir, dass ich ab Montag wieder zur Schule gehe und zeigt mir das Gebäude, als wir dran vorbeifahren: Parkview Academy, auf einer Anhöhe.
    »Du gehst in die achte Klasse.«
    »Ich bin aber schon in der Neunten.«
    »Du gehst in die Achte, weil das sicherer ist. Wir wollen doch, dass du deinem früheren Ich so unähnlich wie nur möglich bist. Und zum Glück«   – er grinst hämisch   – »siehst du für dein Alter nicht zu erwachsen aus.«
    Blöder Wichser. »Und wie alt bin ich jetzt?«
    »Dreizehn. Dein Geburtstag ist jetzt am 5.   September.«
    Na toll! Ein ganzes Jahr verloren. Ein neuer Geburtstag. Super. »Arschloch«, brummle ich, aber auf Urdu, damit er nichts versteht.
    Er wirft einen Blick in den Rückspiegel und sieht meinen Gesichtsausdruck. »Was ist los? Es ist sehr wichtig, dass du die Sache ernst nimmst,
Joe.
« Er benutzt schon unsere neuen Namen und spricht ein bisschen zu laut, als wären wir taub oder Ausländer oder ein bisschen beschränkt. »Wenn du es versaust, müssen wir euch woanders hinbringen und euch die nächste Identität verpassen. Es gibt Leute, die machen das drei-, viermal durch, und das willst du doch bestimmt nicht, oder, mein Junge?«
    »Schon gut   …« Drei- oder viermal? Das ist wohl nicht sein Ernst.
    |30| »Am besten änderst du deine Einstellung ganz schnell«, fährt er fort. »Hier geht es nämlich um Leben und Tod.«
    Was soll man dazu sagen? Doug ist der einzige Mensch, der Joe Andrews bis jetzt kennengelernt hat, und schon jetzt hält er ihn für beschränkt, verfressen und aufsässig. Ob alle anderen mich auch so sehen? Ich schaue aus dem Fenster und frage mich, wieso Joe und Michelle sich ausgerechnet so ein ödes Kaff ausgesucht haben.
    Wir fahren durch eine Hauptstraße mit den gleichen Läden wie sonst überall, dann kommen wir in eine Siedlung, in der alle Häuser gleich langweilig und vergammelt aussehen, und parken vor einem Doppelhaus mit einer roten Tür. Das ist es. Unser neues Zuhause. Ein sicheres Zuhause. Aber ob wir je wieder in Sicherheit leben können?

|31| Kapitel 3
Ellie
    Sicher fühle ich mich im Grunde nur in der Schule. Überall rechne ich mit explodierenden Läden und irgendwelchen Schlägertypen, die sich aus dunklen Ecken auf mich stürzen. Das ist total anstrengend, denn eigentlich passiert nie etwas, weshalb ich meine ganze Kraft darauf verschwende, ständig auf der Hut zu sein und mir Sorgen zu machen.
    Aber sobald ich durchs Schultor bin, geht’s mir besser. Hier kann mich niemand finden. Ich tauche zwischen Hunderten anderer Schüler unter, die alle gleich angezogen sind. Hier ist es nicht wie in London, wo jeder anders aussieht. Hier haben fast alle die gleiche Hautfarbe, irgendwie den gleichen Look. Ich wusste gar nicht, dass man derart unsichtbar sein kann.
    Erst im Klassenzimmer werde ich wieder sichtbar. In meiner Klasse sind lauter Babys. Max, der Junge, der links neben mir sitzt, ist einen Kopf kleiner als ich und hat eine Kieksstimme wie Michael Jackson. Das Mädchen vor mir, Claire, ist sogar noch kleiner. Sie sieht aus wie eine Achtjährige, die sich eine viel zu große Schuluniform ausgeborgt hat.
    |32| Eigentlich war ich gespannt drauf, mit Mädchen in dieselbe Klasse zu gehen. Aber sogar die Mädchen, die einigermaßen wie dreizehn aussehen, kommen mir unglaublich jung vor. Überhaupt gibt es nur ein, zwei, die sich ein bisschen an Make-up und so rantrauen.
    Kein Wunder, dass ich da ziemlich raussteche. Ich bin der Größte. Manchmal sieht es sogar so aus, als müsste ich mich schon rasieren. Im Unterricht weiß ich alles   – jetzt ist es von Vorteil, dass es in St. Saviours so streng zuging und die Lehrer uns schwer schuften ließen. Die Achte noch mal zu machen ist echt Kinderkram. Und langweilig.
     
    Heute sitze ich dösend im Englischunterricht und denke an das Bild, das ich mal in einer Zeitschrift gesehen habe, von einer Eingeborenen irgendwo in Indonesien. An der linken Hand hatte sie nur noch zwei Finger, die übrigen hatte sie sich abgehackt. Einen Finger für jedes Familienmitglied, das sie verloren hatte. Mit diesem Brauch erinnerte sich ihr Stamm an seine Toten.
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