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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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lieben, aber sie braucht es nicht.«
    Lucy hat einen ganzen Schiffskoffer voller Kostüme.
    »Ich weiß, aber sie würde so süß darin aussehen.«
    Ich stehe vor der Auslage mit den Wii-Spielen und suche We Ski and Snowboard , aber ich kann es nirgends entdecken. Ich könnte es online bestellen, aber ehrlich gesagt will ich dieses Spiel für mich selbst haben, und ich hatte gehofft, es noch heute mit den Kindern spielen zu können.
    »Mom, kannst du mir helfen, nach diesem Snowboard-Videospiel zu suchen?«
    Bevor ich aufgebe, will ich sicher sein, dass es sich nicht irgendwo auf der linken Seite versteckt. Sie kommt herüber und stellt sich neben mich, stemmt die Hände in die Hüften, kneift die Augen zusammen und sucht die Auslage ab.
    »Wonach suche ich?«, fragt sie.
    »We Ski and Snowboard.«
    »Ich kann es nirgends finden«, sagt sie. »Wir sollten los. Ich muss noch mein Rezept von der Apotheke abholen.«
    Die Apotheke ist drei Blocks die Straße hinunter.
    »Geh du nur, wir warten hier auf dich.« Ich will Linus noch ein bisschen Zeit mit den Zügen geben, die er so liebt, und mir selbst den Fußmarsch ersparen.
    »Bist du sicher?«, fragt sie.
    »Ja, kein Problem.«
    »Okay, ich bin gleich wieder da.«
    Da ich keine Videospiele sehe, die die Kinder haben wollen oder die wir nicht schon haben, und weil ich weiß, dass wir mit Sicherheit keine brauchen , schaue ich mich weiter in der Nähe des Eisenbahntischs um. Hier gibt es alle klassischen Brettspiele, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnern kann – Candy Land, Schlangen und Leitern, Kniffel, Cluedo, Sorry!  –, und viele Regale mit Spielen, von denen ich noch nie gehört habe. Ich schlendere an den Spielen vorbei, bis ich stehen bleibe, um die Alex-Auslage zu bewundern – Farben, Knetmasse, Klebstoffe, Nähgarn, Handpuppen, Knöpfe, Origami –, für diese ganzen Sachen hätte ich als Kind geschwärmt. Lucy mag alles, was knifflig ist, aber wenn sie jetzt hier wäre, dann würde sie sich genau dort umsehen, wo meine Mutter etwas kaufen wollte, und vermutlich genau das Kleid haben wollen, das meine Mutter mir gezeigt hat.
    Ich sehe wieder zu dem Tisch mit den Zügen. Linus ist nicht da. Vermutlich steht er irgendwo links von mir. Sieh nach links, such links, geh nach links. Kein Linus.
    »Linus?«
    Ich drehe eine Runde um den ganzen Tisch. Er ist nicht da.
    »Linus, wo bist du? Linus?«
    Ich höre, wie verängstigt meine eigene Stimme klingt, und das macht mir erst recht Angst. Ich schleppe mich an meinem Gehstock in die Nähe des jungen Mädchens hinter der Kasse.
    »Haben Sie hier irgendwo einen einjährigen kleinen Jungen gesehen?«, frage ich.
    »Ja, er ist an dem Tisch mit den Zügen.«
    »Da ist er nicht mehr. Ich kann ihn nicht finden. Können Sie mir helfen?«
    Ich warte ihre Antwort nicht ab, sondern drehe mich um und beginne durch das Geschäft zu laufen.
    »Linus!«
    Wo könnte er sein? Das Geschäft ist schlicht, altmodisch und offen angelegt, und die meisten Spielsachen sind in Regalen an den Wänden ausgestellt. Es gibt keine langen Gänge mit Spielsachen, die sich bis an die Decke türmen. Das hier ist nicht Toys”R”Us. Selbst wenn er sich versteckt, müsste ich ihn sehen können. Ich suche unter den Kostümen, hinter den Handpuppen und drüben bei den Autos und Lastwagen, seinem zweitliebsten Ort in dem Geschäft. Sieh nach links, such links, geh nach links. Er ist nirgends zu sehen.
    »Ma’am, hier im Geschäft ist er nicht«, ruft das junge Mädchen.
    Oh mein Gott.
    Ich stürze zur Tür, so schnell ich kann. Als ich sie aufdrücke, ertönt eine Fahrradglocke. Die Tür ist schwer, zu schwer für Linus, um sie allein zu öffnen. Vorhin waren ein paar Jugendliche in dem Geschäft. Er muss mit ihnen zusammen hinausgeschlüpft sein. Ich kann mich erinnern, dass die Glocke gebimmelt hat. Vor einer ganzen Weile. Oh mein Gott.
    Ich gucke den Bürgersteig hinunter. Überall sind Grüppchen von Fußgängern. Ich sehe zwischen den ganzen Beinen hindurch. Doch ich kann ihn nicht entdecken.
    »Linus!«
    Ich drehe mich um und schaue in die andere Richtung. Ich kann ihn nicht entdecken. Oh mein Gott . Ich beginne den Gehsteig hinunterzulaufen, bete, dass ich in die richtige Richtung laufe, und hasse mich dafür, dass ich nicht rennen kann.
    »Linus!«
    Angenommen, er wurde nicht entführt (bitte, Gott!), wohin würde er wollen? Seine Lieblingsdinge auf der Welt sind Züge, Autos und Lastwagen, vor allem laute. Solche, die sich bewegen.
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