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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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die Windschutzscheibe, als Dylan den Truck ihres Vaters durch Dunkelheit und Schnee zum Kap über der Landspitze fuhr. Lucy hatte sich Schulter an Schulter zwischen Dylan und Margred auf die Sitzbank gezwängt. Ein kalter Wind pfiff durch die löchrigen Dichtungen. Die steinalte Heizung blies unter Hochdruck warme Luft in ihre Kniekehlen.
    »Euch ist klar«, sagte Dylan, als der Truck über eine gefrorene Bodenwelle rumpelte, »dass wir in die andere Richtung fahren würden, wenn wir noch bei Verstand wären?«
    Margred zeigte die Zähne in so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. »Du Aas. Du hast wenigstens noch dein Fell.«
    Dylan warf den Kopf zurück und lachte.
    Nach einer Schrecksekunde fiel Lucy mit ein.
    Sie gingen völlig unvorbereitet gemeinsam in den Kampf. Ihr lange verschollener Bruder. Ihre neue Schwester. Deren ungeborenes Kind, Lucys Nichte oder Neffe. Sie dachte flüchtig an Caleb, der seine eigene Sicherheit aufs Spiel setzte, um auf der ganzen Insel die Kranken, die Alten und die Sturköpfe zu retten, und an Regina, die im Gemeindehaus Essen für die ganze Stadt kochte. Oder für eine Armee.
    Was auch immer Lucy verloren hatte, was auch immer sie aufgegeben hatte, sie konnte aus diesem Augenblick Trost schöpfen. Sie konnte sich an diese Hoffnung klammern. So verschieden sie alle waren, sie waren doch eine Familie. Und vielleicht würde sie eines Tages mehr haben können.
    Falls sie Gau besiegten.
    Falls sie das hier überlebten.
    Falls Conn ihr vergeben konnte.
    Dylan steuerte den Truck in den schwarzen Schutz der Bäume und trat auf die Bremse. Der Wind heulte. Weiße Schaumkronen liefen in Reihen über das dunkle Wasser unter ihnen. Flut, dachte Lucy, und ihr Magen zog sich zusammen. Sie würde die Wirkung der Flutwelle noch verstärken.
    Dylan ließ den Motor laufen und sah Lucy fragend an. Dampf wirbelte von der Kühlerhaube in die Nacht auf. »Cal meinte, dass das Epizentrum südlich der Fundybay lag. Das Wasser wird also aus dieser Richtung kommen. Willst du es hier versuchen?«
    Sie befragte ihre Knochen, ihr Herz, ihren Bauch. »Ja.«
    Dylan stellte den Motor ab. Sie stiegen aus. Der Schneefall hatte aufgehört, doch ein eisiger Wind peitschte winzige Eiskristalle in die Luft, Silber auf Schwarz, wie das Cape eines Matadors.
    Margreds Gesicht wirkte so bleich und vollkommen wie Schnee. »Und jetzt?«
    Lucy holte tief Luft und streckte die Hände aus. »Jetzt beenden wir das hier.«
     
    Conn stand auf der Schlossmauer und sah zu, wie die Flutwelle von Westen heranrollte, dunkel wie eine Sonnenfinsternis, lärmend wie eine angreifende Armee, Zerstörung wie Schaum auf ihrem Kamm herantragend, Speere von Schmutz und Standarten aus Gischt vorausschickend.
    Seine Wächter traten ihr gemeinsam mit ihm entgegen, nackt und unbewaffnet, die Felle in der Hand. Griff unbeugsam wie ein Turm, Morgan geheimnisvoll wie die Tiefen und Enya lodernd wie die See bei Sonnenuntergang. Ihre Gesichter waren weiß vor Angst und voller Ehrfurcht und erleuchtet von einem schrecklichen Stolz. Denn die See wollte ihre Kinder holen kommen, entsetzlich und schön wie der Tod, mit einer Stimme, die die Stimme der Tiefe war.
    Und Conn wusste, dass Gau einen Fehler gemacht hatte.
    Die See war schließlich ihr Territorium.
    Sie waren vereint, in diesem einen Moment, in Bewunderung vor der furchtbaren Macht des Schöpfers und des Wassers, das die Grundlage ihrer Existenz war. Conn verströmte sich über die Kanäle, die Lucy in seine Seele gegraben hatte, zog die Kraft der Wächter in sich zusammen, ließ ihre Magie durch sich fließen, bis seine Gabe in ihm dröhnte wie das Brüllen der Brandung. Am Kap von Sanctuary hielt er die Flutwelle auf.
    Er hielt sie auf.
    Sie hielten sie auf.
    Fast.
    Conn zitterte. Er brauchte nur einen kleinen Schubs, eine Seele, eine Kraft mehr, das Zünglein an der Waage, um die Flut umzukehren.
    Er brauchte Lucy.
    Und in diesem Augenblick, als das Schicksal von Sanctuary funkelnd wie Wassertropfen über dem Wellenkamm in der Luft hing, hörte er ihre Stimme, die Stimme seines eigenen Herzens, die ihn mit seinen eigenen Worten rief.
    »Conn. Hilf mir. Ich kann das nicht ohne dich.«
    Conn schwankte, und die Wasserwand fiel.
    »Halt!«, brüllte Morgan, und das Wasser hielt inne, grollend wie der Wasserfall am Ende der alten Welt.
    Schweiß floss über Conns Gesicht.
    Griffs besorgtes Gesicht verschwamm vor seinen Augen. »Lord, was ist mit Euch?«
    Lucy.
Er sah sie brennen in seiner Vision,
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