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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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ja, wenn Ihr sie nicht finden könnt, können es die Dämonen auch nicht.«
    »Es sei denn, sie schwimmt in eine Falle.« Morgan tippte auf die andere Seite der Karte, wo sich einige vereinzelte rote Punkte zusammendrängten: Dämonen vor der Küste von Maine. Vor World’s End.
    Die Möglichkeit, dass sich Lucy in eine noch größere Gefahr begeben haben könnte, drehte Conn den Magen um. Aber das Augenmerk der Hölle lag auf Sanctuary. Das bewies die Karte.
    »Die Dämonen sind bereits auf World’s End aktiv geworden«, sagte er ausdruckslos. Er tippte auf einen glühenden Punkt nördlich der Insel. »Einer von ihnen, Tan, ist hier, unter dem Meer, gefangen.«
    Was diesen Punkt erklärte.
    Zumindest hoffte er, dass es so war.
     
    Sie ging im frühen Dämmerlicht unter einem Himmel an Land, der nach Schnee roch. Sie hob ihr Gesicht mit den Tasthaaren in die Brise, die vom Land her wehte und den Geruch von Holzrauch und Fichten herantrug. Wiedererkennen bahnte sich den Weg durch ihre Erschöpfung. Sie kannte diese Landzunge aus Fels und Sand. Dies war die Landspitze von World’s End, etwa zweieinhalb Kilometer von zu Hause entfernt.
    Die graue See streckte ihre langen Finger über den gefrorenen Strand aus. Die Luft war kalt und unbewegt.
    Sie quälte sich auf den zerklüfteten Strand und wälzte sich weiter über die Felsen. Einen unangenehmen Augenblick lang, als sie in der Brandung wild um sich schlug, schwoll Panik in ihr und drohte, sie zu verschlingen. Würde sie … Wie sollte sie sich wieder in einen Menschen verwandeln?
    Ihre Flossen scharrten im Sand. Ihr Bauch schrammte über das Schiefergestein. Sie spannte ihn an, um sich vorwärts zu schieben – und schon lag sie nackt da, halb im Wasser und halb an Land, das nasse Haar im Gesicht und die See um die Knöchel schäumend.
    Lucy schnappte nach Luft, fröstelte vor Schreck und Kälte. Ihre Finger krallten sich in den grobkörnigen Sand.
    Finger. Sie hatte Finger. Und Knöchel. Zehen.
    Sie kam taumelnd auf die Füße, um besser zu sehen. Zehn Zehen. Mit Schwimmhäuten.
    Wie die von Conn.
    Sie schwankte unsicher wie ein neugeborenes Fohlen oder ein Krankenhauspatient nach einer Operation. Nackt. Nackt und frierend, müde und hungrig. Ihr Seehundfell trieb in den sich zurückziehenden Wellen wie Seegras bei Ebbe.
    Sie hob den Kopf, und der Strand sprang sie geradezu an, wie eine Schwarzweißradierung, scharf und hell. Frost überzog die Felsen. Eiskrusten saßen auf den gefrorenen Halmen der Gräser. Die Wolken waren von demselben stürmischen Grau wie die See und schwanger von Schnee.
    Schwanger.
    Das Wort flammte in ihrem Kopf auf, wärmte sie und entfachte den Gedanken neu in ihr, dass die Zeit drängte.
    Maggie war schwanger.
    Lucy musste herausfinden … Sie musste ihre Familie warnen.
    Sie bückte sich nach ihrem Fell.
    Es trieb im Wasser. Sie zerrte den schweren, nassen Pelz aus der Brandung. Mit zitternden Händen streichelte sie ihn. Er war silbergrau gesprenkelt, kleiner und leichter und heller als der von Conn. In ihren Armen fühlte er sich gar nicht mehr feucht an.
    Selkie-Magie?,
fragte sie sich.
    Warum nicht?
    Sie schlang sich das Fell wie ein Strandtuch um den Leib, so dass es ihre Brüste bedeckte. Sie hatte Gänsehaut. Sie fröstelte, konnte es aber ertragen. Dabei hätte ihr eigentlich eiskalt sein müssen …
    Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Und dann begriff sie. Sie war verändert. Verwandelt. Ihre Reise durch die See hatte sie verwandelt. Sie fragte sich, ob sie im Dunkeln würde sehen können, wenn es Nacht wurde.
    Ihr Magen knurrte.
    Sie stolperte auf langen, ungelenken Beinen und empfindlichen Füßen über die Felsen und schlug den Weg über den Strand zu den Bäumen ein, die an der Straße Wache standen. Sie brauchte Schuhe. Schuhe und Kleider und Essen.
    Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Vor Tagen.
    Als sie unter den Bäumen hervortrat, setzte leichter Schneefall ein. Die weichen, feuchten Flocken lösten sich auf dem schwarzen Asphalt rasch auf, zeichneten die Umrisse der Bäume weich und ließen die Grenzen zwischen Himmel und Erde verschwimmen. Sie trottete auf dem Straßenbankett dahin. Nach Hause.
    Sie wollte nicht gesehen werden. Bemerkt. Was sollte sie zu einem Autofahrer, einem Nachbarn, Vater oder Mutter eines ihrer Schüler sagen, wenn sie anhielten und wissen wollten, warum die Lehrerin der Erstklässler halbnackt, in ein Fell gewickelt und allein auf der
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