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Medusa

Medusa

Titel: Medusa
Autoren: Thomas Thiemeyer
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ihrem Herrn. Hannah blieb zurück und blickte sich um. Die Stelle sah wenig viel versprechend aus. In all den Jahren hatte sie ein untrügliches Gespür für Felsformationen entwickelt. Die Felsen hier trugen die Spuren von Winderosion. Wenn hier einmal etwas gewesen war, hatte es das Sandstrahlgebläse der Wüste längst zerstört. Aber, so wusste sie, man sollte niemals voreilige Schlüsse ziehen. Vielleicht wollte er ihr gar keine Malereien zeigen.
    Sie folgte dem Tuareg in den schmalen Gang. Je weiter sie ging, desto enger rückten die Wände zusammen. An zwei Stellen konnte sie sich nur seitlich voranschieben. Die Kamera scheuerte über das raue Gestein. »Verdammt«, murmelte sie, als sie bemerkte, dass das Gehäuse Kratzer abbekommen hatte. Sie nahm die Kamera und legte schützend ihren Arm um sie. Nach wenigen Metern rückten die Wände auseinander und gaben den Blick auf einen märchenhaft anmutenden Talkessel frei. Umsäumt von bizarr abgeschliffenen Felsen, die zu allen Seiten senkrecht in die Höhe wuchsen, bildete der Kessel ein fast perfektes Rund. In seiner Mitte befand sich ein grob gemauerter Brunnen, neben dem eine uralte Zypresse wuchs. Der Form und der Dicke ihres Stammes nach zu urteilen, musste der Baum seit gut und gerne dreitausend Jahren hier stehen. Er war so alt, dass er beinahe versteinert wirkte. Ein lebendes Fossil, ging es Hannah durch den Kopf. Zusammen mit dem Brunnen an seiner Seite war er von beinahe überirdischer Schönheit.
    »Fantastisch. Wie kommt es, dass nichts über diesen Ort bekannt ist?«
    »Wir Tuareg halten ihn geheim. Früher war er eine wichtige Wasserstelle und ein Gebetsplatz, aber der Brunnen ist seit vielen Generationen ausgetrocknet, und so blieben auch die Pilger aus.«
    Hannah hob die Kamera an ihr Auge, doch Kore schüttelte den Kopf. »Bitte nicht. Dies ist ein heiliger Ort. Nach den Gesetzen des Koran dürfen von solchen Orten keine Bilder gemacht werden. Es tut mir Leid.«
    Hannah blickte ihn enttäuscht an. »Schade. Dieser Platz könnte berühmt werden. Allein dieser Baum …«
    »Genau das ist der Punkt. Streng genommen hat der Koran nicht viel damit zu tun. Es geht um die Stille. Können Sie sich vorstellen, wie es hier zugehen würde, wenn die Welt davon erfährt?«
    Hannah wusste, wovon er sprach. Sie hatte oft genug mit ansehen müssen, wie die Touristen mit Heiligtümern anderer Kulturen umgingen. Doch sie verspürte das Bedürfnis, jemanden an ihrer Entdeckung teilhaben zu lassen. Jemanden, der ihr nahe stand. Kore schien ihre Gedanken zu erraten.
    »Ich verstehe Ihren Wunsch. Aber überlegen Sie gut, ob und wem Sie davon berichten. Dies ist für uns Tuareg seit Tausenden von Jahren ein geweihter Ort, und das soll er bleiben. Aber eigentlich wollte ich Ihnen etwas anderes zeigen.« Er deutete auf die Felsen. »Sehen Sie die Spalte hinter dem Baum, auf der anderen Seite?«
    Hannahs Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Tatsächlich – sie hatte es zuerst für einen Schatten gehalten. Das Gestein musste dort vor langer Zeit aufgebrochen sein. Wahrscheinlich durch die enormen Temperaturschwankungen. Wind und Wasser hatten seine Kanten rund geschliffen. Von überwältigender Neugier angezogen, näherte sie sich der Spalte. Erst als sie kurz davor stand, bemerkte sie, dass Kore und seine Hunde ihr nicht folgten.
    »Kommen Sie nicht mit?«
    »Nein«, antwortete er mit einem schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. »Dies ist ein Ort der kel essuf . Für uns ist er tabu. Aber für Sie dürfte er von großem Interesse sein.«
    Hannah lächelte. Wie konnte er das wissen, wenn er dort noch nie war? »Sind Sie sicher? Ich könnte einen guten Führer gebrauchen. Selbstverständlich würde ich mich erkenntlich zeigen.«
    Kore winkte ab. »Lassen Sie es gut sein. Gehen Sie ruhig allein, es ist nicht weit. Vermutlich werden Sie keine Zeit mehr haben, um sich mit mir zu unterhalten, wenn Sie erst die Schlucht betreten haben. Ich mache mich auf den Weg ins Aïr-Gebirge, genauer gesagt zu den Montagnes Bleues , in deren kühlen Schatten ich den Sommer verbringen werde. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich dort einmal besuchen und mir berichten würden, was Sie hier herausgefunden haben. Ich lasse Ihnen ausreichend Wasser an der Zypresse zurück. Leben Sie wohl, Hannah Peters. Allah beschütze Sie.«
    »Leben auch Sie wohl, Kore. Und vielen Dank für alles. Allah es malladek! « Sie hob die Hand, doch Kore befand sich bereits auf dem Rückweg.
    Sie wandte sich
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