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Medusa

Medusa

Titel: Medusa
Autoren: Thomas Thiemeyer
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genau. Ich werde genau das tun, was Kore von mir verlangt hat. Und zwar hier und jetzt.«
    Sie nahm die Schatulle, hielt sie über den Rand des ausgetrockneten Brunnens und ließ sie dann los. Es dauerte eine kleine Ewigkeit. Dann vernahmen sie tief unter sich einen schwachen Aufprall – als wäre die Schatulle in ein weiches Schlammbett gefallen.
    Als Chris zu Hannah hinübersah, bemerkte er, dass sie weinte. Was musste das für ein Verlust für sie sein. Er konnte es ihr gut nachfühlen. Dieser Fund war alles, was sie sich von ihrem Leben erhofft hatte, alles, worauf sie hingearbeitet hatte. Und nun hatte sie sich freiwillig davon getrennt. Aber vielleicht war das jenes Zeugnis der Weisheit, deretwegen sie auserwählt worden war.
    Er nahm sie in seine Arme und spürte, wie sie zitterte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte und von ihm löste.
    »O je«, schniefte sie. »Jetzt habe ich deine Jacke voll geheult.«
    Sie fing an, mit ihrem Ärmel an ihm herumzuwischen, doch er hielt ihren Arm fest, zog sie zu sich heran und küsste sie. Er fuhr durch ihr Haar und streichelte ihre tränennassen Wangen, bis sie wieder lachte.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er. »Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie noch einmal. Leidenschaftlich.
    Als sie sich voneinander lösten, strahlten ihre Augen, und ihr Lächeln schien den ganzen Ort zu verzaubern. Es kam ihm vor, als würde es die Wüste zum Blühen bringen und sogar der alten Zypresse neues Leben einhauchen. Dies war der magische Kreis. Wahrhaftig eine würdige Ruhestätte für das Auge der Medusa. Er nahm Hannahs Hand und zog sie mit sich.
    »Komm«, sagte er. Doch da fiel ihm noch etwas ein. »Was ist eigentlich aus den vier heiligen Frauen geworden, nachdem sie die Höhle verlassen haben?«
    Hannah starrte versonnen zu dem uralten Baum. »Darüber kann man nur spekulieren. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sie eine Art Unsterblichkeit erlangt hatten, übers Meer nach Norden gegangen sind und mit ihrem fortgeschrittenen Wissen eine Stadt gegründet haben. Und das Matriarchat eingeführt«, setzte sie augenzwinkernd hinzu. »Das war vor vielen tausend Jahren. Diese Stadt ist deswegen so bemerkenswert, weil viele Forscher der Meinung sind, dass es sich hierbei um die älteste Stadt der Welt handelt, älter noch als Jericho. Und man hat sich nie erklären können, woher ihre Gründer stammten.«
    »Wie kommst du darauf, dass da eine Verbindung zu unserer Medusa bestand?«
    Hannah lächelte. »Weil man dort die dreigeteilte Göttin anbetete und die Einwohner sich darauf verstanden, Gegenstände aus Obsidian zu formen.«
    »Und wie heißt diese Stadt?«
    »Çatal Hüyük.«
     
    An einem kühlen und regnerischen Morgen im November, zwei Jahre später, kehrte Kore Cheikh Mellakh vom Stamm der Kel Ajjer in sein Jagdgebiet am Fuße des Tassili N’Ajjer zurück. Dies würde der letzte Winter sein, den er hier verbrachte, spürte er doch, dass er zu alt für diese langen Reisen wurde. Noch ein letztes Mal wollte er die Schönheit und Pracht der Berge sehen, in deren Schatten er vor so vielen Jahren geboren wurde. Noch ein letztes Mal wollte er hier auf die Jagd gehen und eine Antilope erlegen.
    Seine Füße führten ihn zielstrebig an den Ort, an dem er Hannah Peters zum ersten Mal begegnet war. Er war erfüllt von Neugier. Etwas hatte sich in seinen heimatlichen Bergen verändert, das spürte er. Doch er wusste nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten.
    Unruhe trieb ihn an. Leichtfüßig huschte er über die Felsen wie ein Leopard, der einer Fährte folgte. Sein Jagdinstinkt führte ihn direkt hinein in die Schlucht, zwischen den mächtigen Blöcken hindurch bis zum magischen Kreis, zum versteckten Gebetsplatz der Tuareg im Schatten der alten Zypresse. Noch ehe er etwas anderes wahrnehmen konnte, hörte er das Plätschern von Wasser. Er brachte sein Gewehr in Anschlag, trat zwischen den Felsen heraus ins Licht und rieb sich verwundert die Augen.
    Inmitten der Trockenheit der Wüste hatte sich eine Oase gebildet. Grünes Gras bedeckte den Boden, Moose und Flechten die Felswände. Der Brunnen, der seit so vielen Jahren trocken gelegen hatte, sprudelte über von herrlichem klarem Bergwasser. Die alte Zypresse sah jünger und lebendiger aus denn je. Kore fühlte sich wie im Inneren eines riesigen Edelsteins, eines Smaragds von unvorstellbarer Größe.
    Er nickte zufrieden. Hannah Peters hatte begriffen. Sie
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