Marzipaneier (Junge Liebe)
sich höchstens noch erahnen. Sein rechtes Bein ist zugedeckt. Ich greife darunter. Ich habe eine unversehrte Stelle gefunden! Ich reibe vorsichtig darüber und spüre seine Haare. Ich liebkose sein Bein, aber auch dieses, das nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, schmeckt eingeölt. Ich wünsche mir Heilkräfte. Wie She-Ra , die ich in meiner Kindheit immer geschaut und bewundert habe.
Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie er vor sich hin krepiert. Das ist zuviel für meine geschundene Seele. Zuviel für heute. Ich halte es nicht aus. Raus hier! Ben, ich komme wieder. Versprochen! Halte durch!
Ich will die Klinke zum Arztzimmer drücken. Unnötig. Die Tür steht einen winzigen Spalt offen. Ich belausche das Gespräch zwischen dem Doc, Dad und Bianka. Erschüttert muss ich Bens Chancen zur Kenntnis nehmen.
„Sie müssen stark sein. Es steht nicht gut um ihn. Überhaupt nicht. Er hat schwere Kopfverletzungen davongetragen. Die weiteren Schäden sind noch nicht abzusehen, ganz zu schweigen von seinen mehr oder weniger harmlosen Knochenbrüchen. Die Wirbelsäule hat einiges abbekommen. Eine genauere Diagnose ist erst möglich, wenn ... ja, wenn er die Nacht übersteht. Wir haben wenig Hoffnung, aber die geben wir nicht auf. Es hat keinen Sinn Ihnen etwas vorzuflunkern. Beten Sie. Das hat schon manchen geholfen! Und dieser junge Mann scheint ihm wichtig zu sein, lassen Sie ihn zu Ihrem Mann. Vielleicht kann seine Anwesenheit unterbewusst für Geborgenheit in ihm sorgen, damit sein Körper kämpft.“
Ich kann es nicht fassen. Ben, du kannst mich unter diesem Haufen von Irren nicht allein lassen. Ich muss raus, an die frische Luft. Ich ertrage das nicht. Das ist ein beschissenes Gefühl. Die Gänge sind leer. Draußen ist es schon dunkel. Wo soll ich hin? Geradeaus. Weg von hier. Weit weg. Das kann er mir nicht antun. Das werde ich mir nie verzeihen. Weil ich ihn angerufen habe, ist er losgefahren. Schnurstracks in sein Unheil. Ich bin schuld. Bianka hat ausnahmsweise Recht. Wegen mir ist er gerast und von seinem Weg abgekommen. Ich habe ihn auf dem Gewissen.
Ich gehe an jemandem vorüber. Wer ist es? Kommt mir bekannt vor, aber ich erkenne die Konturen nur verschwommen. Alles um mich herum ist verschwommen. Der einsetzende Regen tut sein Übriges. Mit Tränen in den Augen gehe ich weiter. Ich möchte weinen. In den letzten Wochen und Monaten hätte ich Grund genug dazu gehabt. Meine zunächst hoffnungslos erscheinende Liebe zu Ben, die Hänseleien in der Schule und der Anblick von Bens Auto heute morgen. Immer wieder habe ich sie unterdrückt, meine Tränen. Oder es kam nichts. Jetzt geht nichts mehr. Das Maß ist voll. Meine Trauer, Wut, Angst und Hilflosigkeit muss raus. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geheult habe. Es muss beim Tod von Lady Di gewesen sein. Ich schäme mich nicht einer Träne. Du darfst mich nicht im Stich lassen, hörst du?! Wir hatten noch so viel miteinander vor. Wir wollten zum Sound of Frankfurt gehen. Wer begleitet mich nun zu den Dienstagsläufen?
Was wäre gewesen, wenn er unbeschadet bei mir angekommen wäre? Es hätte so schön werden können. Ich will nicht nur Erinnerungen mitschleppen. Ich werde dich verlieren. Nie mehr werde ich dich spüren. Deine Küsse, die nach Ben schmecken, das Gefühl, wenn wir miteinander schlafen. Lass es nicht zu Ende sein und kämpfe! Ich bin fertig. Auf einmal fällt mir das Lied von unserem ersten Mal wieder ein. Ausgerechnet Whitney Houston. Bei unserem Kuss, unserem ersten Mal. Immer wieder lief Whitneys Musik. Früher war sie mir beinahe verhasst. Jetzt mag ich ihre Musik. Ebenso die Popmusik von Britney Spears und Boygroups, die ich immer noch nicht voneinander unterscheiden kann. Ich habe mir die Songs mal angehört. Schlecht sind sie gewiss nicht. Im Gegenteil. Ohne mir die Hits jemals angehört zu haben, habe ich die Clique in ihrem Urteil über diese Künstler bekräftigt. Sie mögen die Lieder nicht, weil es Mainstream und kommerziell ist und sie das idiotischerweise uncool finden. Ich verstehe das nicht. Heutzutage ist doch die gesamte Chartlandschaft von Kommerz geprägt. Auch meine Hiphopper bedienen sich dessen mehr als nur ausreichend. Ich habe es Ben zu verdanken. Er hat mir nicht nur in punkto Musik die Augen geöffnet und meinen Horizont erweitert. Ich habe ihm soviel zu verdanken und mich viel zu sehr von der Clique beeinflussen lassen. Schluss damit!
I will always love you ist der Titel des Songs,
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