Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich
Autoren: Oliver Bellamy
Vom Netzwerk:
Gitlis besucht sie oft, wenn die Nacht bereits hereingebrochen ist. Sie liebt seine musikalische Intuition, außerdem kann er sie zum Lachen bringen. Auch seinen Freigeist verehrt sie, seine Fantasie und sein Talent, die unterschiedlichsten Künstler um sich zu scharen. Auf der Bühne improvisiert er permanent. Sie erinnert sich mit Vergnügen an diverse Festivals, die er in Vence organisiert hatte. Der Flötist Jean-Pierre Rampal, die Dirigenten Igor Markevitch und Leopold Stokowski, die auf den Komponisten Michel Legrand, den Pantomimen Marcel Marceau und den Chansonnier Léo Ferré trafen … Die Programme waren neu, gewagt und »komponiert« wie ein Stück. Der heute fast neunzigjährige israelische Geiger lebt in Saint-Germain-des-Prés, in einer Art orientalischem Basar, der ihm als Junggesellenwohnung dient – wie zu seinen Bohemejahren. Er tritt noch immer mit einigen Stücken auf, mit einer sehr persönlichen Note, indem er sein Spiel manchmal unterbricht, um witzige Sprüche von sich zu geben und den jungen Mädchen in der ersten Reihe bewundernde Blicke zuzuwerfen. Der geborene Charmeur, Egozentriker und Müßiggänger Ivry Gitlis hat seine Karriere auf eine sehr unorthodoxe Weise verfolgt, doch es gab immer wieder Momente, in denen das Genie in ihm aufschien und ihm zu einem Ruhm verhalf (der ihm allerdings nichts bedeutete) – so etwa beim Violinkonzert von Sibelius, dem Violinkonzert Nr. 2 von Bartók oder bei Bergs Violinkonzert Dem Andenken eines Engels . Als wichtigste Erfahrung aus seiner mäandernden Laufbahn hat er eine ziemlich anarchische Lehre gezogen, die er seinen jungen Kollegen gern mit auf den Weg gibt: »Habt den Mut, ihr selbst zu sein, Risiken einzugehen, keine Kopien eurer eigenen Plattenaufnahmen oder der von anderen zu werden!« Er ist in Afrika mit einheimischen Sängern aufgetreten, hat mit Zigeunern Musik gemacht, Jamsessions mit Jazzmusikern veranstaltet – alles mit dem gleichen Impetus, denn dieser außergewöhnliche Musiker kennt keine Grenzen. Martha, zu der Daniel Barenboim einmal gesagt hatte, sie sei ein »wunderschönes Gemälde ohne Rahmen«, hat in Ivry ihr Alter Ego getroffen.
    2007 war sie der Star bei drei Konzerten in der Salle Pleyel, die sich um Johann Sebastian Bach drehten, umgeben von all ihren Freunden, im Geiste ihres Festivals von Lugano. Am Ufer des Tessiner Sees hat sie sich eine Familie aufgebaut, die von Jahr zu Jahr größer wird. Sie ist die Königin in diesem summenden Bienenstock. Alle bekommen bei ihren Auftritten die gleiche Gage, die Stars ebenso wie die Neulinge. Carlo Piccardi vom Sender RSI (Radio televisione Svizzera di Lingua Italiana) denkt sich originelle Programme aus, und das Publikum kommt aus ganz Europa angereist, um eine neue Art des Musikerlebnisses kennenzulernen.
    In Paris trat sie als Solistin mit Bachs Partita Nr. 2 auf. Ein Zeichen für die Rückkehr zum Recital, was niemand mehr für möglich gehalten hätte? Die Wahrscheinlichkeit, dass Martha Argerich den Höllenrhythmus ihrer Anfangsjahre wiederaufnimmt, ist denkbar gering. Aber dieser erste kleine Schritt in jene Richtung mag dennoch auf einen Sinneswandel hindeuten. Ganz verhalten, ganz diskret hat sie erneut begonnen als Solistin aufzutreten und zugleich elegant vermieden, allein im Rampenlicht zu stehen. Endlich scheint sie einen Weg gefunden zu haben, der ihren Möglichkeiten entspricht und den Wünschen ihres Publikums entgegenkommt.
    Sie weiß, dass sie sich an einem Wendepunkt befindet, aber sie weiß noch nicht, wohin ihr Lebensweg sie nun führen wird. Sie wäscht sich nach wie vor in den unmöglichsten Momenten die Haare, aber sie färbt sie seit drei, vier Jahren nicht mehr. »So kann ich mich selbst besser sehen«, lautet ihre rätselhafte Begründung. Als Verfechterin des Natürlichen hatte Martha jahrelang der Natur nachgeholfen, was sie möglicherweise vor sich selbst nicht länger gutheißen konnte. Wenn es nicht gar
Bequemlichkeit war, die letztendlich die Oberhand gewonnen hat. Ihre graue Mähne hat ihren Teint aufgehellt und lässt sie seltsamerweise jünger erscheinen. »Ich möchte eine leicht spinnerte alte Dame werden, aber nicht zu sehr«, sagte sie einst als junge Frau. Mit ihren Wollbändchen ums Handgelenk, ihren billigen Halsketten, ihren bunten Stofftaschen und indischen Kleidern muss Martha keine Angst haben, lächerlich zu wirken. So ist sie authentisch.
    2006 spielte sie bei einem Konzert in der Salle Pleyel
Schumanns Kinderszenen ,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher