Maria, ihm schmeckts nicht!
nicht
mehr.«
»Schmeckt’s nicht?«
» —«
Was die Ernährung angeht, so ist es ein absolutes
Wunder, dass dieses Land noch existiert, weil seine Bewohner eigentlich längst tot sein müssten. Sie er-nähren sich nämlich fast ausschließlich von Kohle-
hydraten.
Man beginnt morgens mit einem kleinen cornetto
zum Kaffee, also einem Croissant. Niemals darf man
übrigens dieses Wort in Italien verwenden, es hat die sofortige Verbannung aus dem inner circle jeder italienischen Sozialgemeinschaft zur Folge. Zwischen-
durch verschlingen Italiener mehrmals am Tag einen
tramezzino, ein Weißbrotsandwich mit Mayonnaise und allerlei billigen Zutaten. Mittags gibt es unbedingt Nudeln, manchmal Pizza, oft sogar beides.
Abends dasselbe und immer weißes, ziemlich trocke-
nes Brot dazu. Das kann man nicht überleben und es
gehört zu den absoluten Mysterien der Menschheit,
dass dieses Volk bei solch einer Ernährung nicht
schon längst mit einem lauten Knall geplatzt ist.
Bei meiner Familie dreht sich eigentlich alles ums
Essen. Wann habt ihr gegessen? Wer war dabei? Geht
ihr heute noch essen? Wohin? Wie viel Knoblauch
gebt ihr an das ossobuco? Egidio hat eine cassata gemacht. Es ist noch zu früh für ein Lamm, aber Kalb könnte gehen. Die dolci von Luigi sind besser als die von Gennaro. Und so weiter und so fort. Selbst
Lebensweisheiten haben in meiner Familie immer
irgendwie mit Essen zu tun. Über den Cousin Marco,
der ein hübscher Kerl ist und besonders erfolgreich bei den Frauen, sagen seine Freunde voller Anerkennung: »Lui deve inzuppare il suo biscotto
dappertutto.« (»Er muss überall seinen Keks
eintauchen.«)
Italiener trinken nicht viel. Es gibt ganz selten
Bier, meistens steht gekühlter Rotwein auf dem Tisch.
Meine Familie bevorzugt einen Winzer, der aus
Kostengründen auf Etiketten verzichtet und seinen
Wein in Bügelflaschen abfüllt, die er seinen Kunden in Zehnerkästen nach Hause bringt. Es ist ein ganz
junger, aber großartiger Wein, von dem niemals zu
viel getrunken wird. Schon die Kinder bekommen ihn
mit Limonade verdünnt und die Erwachsenen trinken
dazu Wasser. Nie habe ich erlebt, dass einer über die Stränge geschlagen hätte, nie habe ich einen Einzigen aus meiner Familie betrunken gesehen.
Man geht früh zu Bett. Gegen zehn Uhr abends
schläft Campobasso sanft und schnarcht an seinem
Berghang, dass die Pinien zittern. Vorher verab-
schieden wir gestenreich unsere Tanten und Onkel.
Alle sind sehr nett zu mir. Ehe wir unter die Decke schlüpfen, drehe ich das Bild von dem weinenden
Kind um. Ich habe Angst vor ihm.
Mit Antonio ist übrigens heute Nacht nicht zu
rechnen, denn er übernachtet mit Ursula bei Egidio
und Maria.
»Mein Opa tut mir Leid«, sagt Sara traurig, bevor
wir einschlafen. »Er war immer so lieb.«
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. In Wirk-
lichkeit spielte er mit seinen vielen Enkeln gerne um Geld, beschiss sie nach Strich und Faden und gab es ihnen anschließend nicht zurück. Wenn Silvester
nach altem Brauch mit Kleingeld geworfen wurde,
das die Kinder aufheben und behalten durften,
bückte er sich stets als Erster und grabschte ihnen die Münzen vor der Nase weg.
»Früher war er nie so still.«
Opa Calogero hat den ganzen Abend hindurch an
seinem Tischlein gesessen und den Mitgliedern
seiner Familie aus großen, neugierigen Augen zuge-
sehen. Mich würdigte er keines Blickes, bis Nonna
ihm erklärte, ich sei Deutscher. Da lächelte er zahnlos und bot mir eine rosafarbene Tablette aus seinem Fundus an.
In der Nacht stirbt er.
Opa Calogero liegt angezogen im Bett, die Augen
geschlossen. Auf seiner wächsernen Haut spiegelt
sich das Sonnenlicht, das durch die Ritzen der
Fensterläden ins Zimmer fällt.
Sein Tod, sagen die Verwandten, kam nicht über-
raschend, er hat sehr abgebaut in letzter Zeit, sogar das Schimpfen ließ er sein. Eigentlich hörte er ganz auf zu sprechen, was für einen Marcipane bedeutet,
dass es ihm wirklich nicht gut geht.
Nonna Anna ist am Morgen aufgewacht und wusste
sofort, dass ihr Calogero tot neben ihr lag. Normalerweise war er vor ihr wach. Und wenn man über sech-
zig Jahre miteinander eingeschlafen und aufgestan-
den ist, dann erkennt man instinktiv, wenn etwas
nicht stimmt.
Ganz automatisch kommt ein Prozess in Gang, der
gleichsam wunderbar und merkwürdig anmutet. Als
Erstes taucht der Hausarzt dottor Neri auf, um den Tod offiziell festzustellen. Er hat ein
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