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Marais-Fieber

Marais-Fieber

Titel: Marais-Fieber
Autoren: Léo Malet
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oder das, was zu ihm gehörte und dem
Pfandleiher das Gesicht verzerrt hatte.
    Fluchend versuchte ich, mich zu
bewegen, rollte mich hin und her, öffnete mit Mühe die Augen.
    Ich lag auf dem Bauch, den Kopf
verdreht auf einem hübschen Schiefhals, das Ohr am Boden wie ein Indianer auf
Kriegspfad, der die feindlichen Geräusche belauert. Ganz in meiner Nähe lag
friedlich Cabirol.
    Wir zwei bildeten ein nettes
Paar. Ein niedliches Stilleben mit Pendeluhr, wie man sie hier im Viertel in
Mengen herstellt.
    Großer Gott! Wie lange lag ich
wohl schon da? Durch den Schleier vor meinen Augen sah ich die verschiedenen
Gegenstände deutlicher als vorher. Mir kam es so vor, als würden sie
beleuchtet. Durch das Tageslicht (ein neuer Tag?) oder durch künstliches Licht?
    Ich schloß die Augen.
    Die kleine nackte Frau tanzte
nicht mehr auf meinem Brustkorb. Nur ihr betäubendes Parfüm hielt sich
hartnäckig.
    Ich öffnete die Augen wieder.
    Wenige Zentimeter vor meinem Gesicht
stand ein kleiner Fuß in einem Schlangenlederschuh. Der Absatz trat auf eine
Zigarettenkippe. Das zum Fuß gehörende Bein steckte in einem Nylonstrumpf. Ein
hübsches Bein. Ich fluchte wieder und versuchte, mit der Hand den Knöchel zu
packen. Bein und Fuß verschwanden ganz plötzlich aus meinem Gesichtsfeld. Es machte ,klick’ , und um mich herum wurde es wieder dunkel.
Eine Tür wurde zugeschlagen. Stille. Daneben tausend Geräusche: der Wind
heulte, der Regen trommelte gegen die Fenster, die Wanduhr tickte und vibrierte
seltsam. Außerdem dröhnte es in meinen Ohren. Gekitzelt wurde ich aber nicht
mehr... auch nicht von dem Parfüm. Es roch nur noch muffig nach Staub und
Feuchtigkeit. Dazu ein abgestandener ekliger Geruch, der mich beinahe wieder
aus den Latschen kippen ließ.
    Aber das war jetzt nicht der
richtige Augenblick dafür. Ich stützte mich auf die Ellbogen, schaffte es, auf
allen Vieren zu knien. Diese Stellung behielt ich eine Weile bei, bewegte den
Kopf hin und her. Vor mir schaukelte die verschwommene Gestalt von Cabirol.
Endlich gelang es mir, mich mit Hilfe der Möbel auf meine zittrigen Beine zu
stellen.
    Um mich herum wurde es immer
dunkler. Ich hatte das Bedürfnis, klar zu sehen. In jeder Hinsicht. Die
Dunkelheit verstärkte meine Schwindelgefühle. Etwas Licht würde sie vielleicht
verscheuchen. Ich drückte auf den Knopf im Fuß der Schreibtischlampe. Die
plötzliche Helligkeit traf den Griff des Brieföffners und ließ ihn glänzen. Die
massivgoldene nackte Frau war aber nicht gewandert; das hatte ich geträumt. Sie
stand immer noch auf Cabirols Brust, nicht auf meiner. Unbeweglich hielt sie
Wache, ein Bein in die Luft gestreckt. Irgendwie war mir das auch lieber.
    Den Dolch hatte man also nicht
berührt. Dafür aber zwei andere Dinge: die Lippen des Toten, von denen die
Spuren des Lippenstifts abgewischt waren, und die Brieftasche, die die
Jackentasche nicht mehr ausbeulte. Nach meiner Geldanleihe hatte ich sie wieder
dorthin zurückgesteckt. Mir kam da so eine Idee, und ich suchte bei mir nach
den fünfzig Scheinchen. Ich hatte sie immer noch. Glück gehabt. Während ich
mich darüber freute, läutete das Telefon.
    Ich
war noch zu sehr im Tran, stand zu nah am Apparat, um meine Reflexe
kontrollieren zu können. Als ich mir über meine Unvorsichtigkeit klar wurde,
berührte der feuchtklebrige Hörer schon mein Ohr. Im Hintergrund hörte ich La
Valse des Orgueilleux, dann eine Stimme:
    „Sind
Sie’s, Cabirol?“
    Eine
junge Stimme, gehetzt, verstellt. Ein Ungeduldiger, der unbedingt eine wichtige
Information loswerden wollte. Jedenfalls hatte ich den Eindruck. Vielleicht
dramatisierte ich auch die Situation, die sich sehr gut fürs Drama eignete.
    „Wen
wünschen Sie, bitte?“ fragte ich.
    Keine
Musik mehr, nur noch die Stimme:
    „Temple
12-12.“
    Temple
12-12. Wunderbar. Die Telefonnummer des alten kalten Wucherers. Sie stand auf
der Wählscheibe vor mir. Trotzdem fragte ich noch mal nach:
    „Temple
— wie war die Nummer?“
    „12-12.“
    Jetzt
wieder eine beschwingte Musik, als Begleitung für den Fluch, den der Pechvogel
zusammen mit der Nummer durch die Leitung schickte. Es wurde ihm sicher so
langsam unbehaglich.
    „Sie
haben sich verwählt.“
    Mein
Gesprächspartner knallte den Hörer auf die Gabel. Keine Entschuldigung. Ich
legte ebenfalls auf. Dann holte ich mein Taschentuch hervor und machte etwas
Hausputz. Als ich den Hörer abgewischt hatte, sagte mir die Vorsicht, ich solle
mich aus dem Staub
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