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Manhattan Blues

Manhattan Blues

Titel: Manhattan Blues
Autoren: Don Winslow
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halben Straßenblock hatte er sie eingeholt. Sie stand auf
dem Bürgersteig der Fifth Avenue und krümmte sich, um nach Luft zu schnappen,
als er sie erreichte und es ihr nachtat.
    »Stehvermögen«, schnaufte er.
    »Ich werde dir zeigen, was Stehvermögen ist«, keuchte sie.
    Sie lachten und umarmten sich, als eine weiße Limousine neben ihnen
hielt. Die hintere Seitenscheibe ging surrend herunter, und eine Frau mittleren
Alters steckte den Kopf heraus und fragte in einem europäischen Akzent, der
ebenso stark wie vielfältig war: »Darlings! Alles in Ordnung mit euch?!«
    »Großartig!« sagte Walter lachend.
    Es war die Contessa, die reiche und vielgeliebte Gönnerin der
Jazzmusiker in New York. Beide kannten sie gut aus allen Clubs in der Stadt und
der Hälfte der Clubs in Europa. Die Contessa fuhr spätabends durch die Gegend,
und wenn sie anderweitig zu tun hatte, schickte sie einfach ihren Fahrer Theo
los, der nach Musikern Ausschau hielt, die betrunken oder high waren und
gefahren werden oder einfach nur irgendwo übernachten wollten. In der Halbwelt
des Jazz war es zum geflügelten Wort geworden: »Ein Künstler, der ganz unten
angekommen ist, fährt mit der Contessa«, sagte man.
    Sie unterhielt eine Suite im Stanhope Hotel und brachte ihre
Schützlinge oft dorthin. Sie legte allerdings nie Hand an sie, es sei denn, sie
hielt ihnen den Kopf fest, wenn sie sie mit Suppe fütterte, oder sie wiegte
sie, wenn sie das Delirium tremens hatten oder Entzugserscheinungen nach
Heroin. Walter hatte sie traurig erzählen hören - an einem der seltenen Abende,
an denen sie angesäuselt war —, wie Charlie Parker in ihrer Suite gestorben sei
- er sei zusammengebrochen, als er Tommy Dorseys Just
friends hörte —, weil der Hotelarzt sich geweigert habe, für einen
»Nigger« einen Hausbesuch zu machen.
    »Wir wollten gerade eine Kutschfahrt machen«, erklärte Anne.
    »Meine Lieben, ich glaube, ihr habt die Pferde vergessen«, sagte die
Contessa. »Und die Kutsche!«
    »Hab ich doch gewußt, daß da was fehlt«, sagte Anne.
    »Springt rein, ich nehme euch zum Park mit.«
    »Um keinen Preis der Welt«, wandte Walter ein. »Wir haben unseren
Stolz!«
    »Und Idioten sind wir auch«, fügte Anne hinzu.
    »Und Idioten sind wir auch«, sagte Walter wie ein Echo.
    Die Contessa warf ihnen eine Kußhand zu, die Limousine fuhr los, und
Walter und Anne marschierten - immerzu singend - die Fifth Avenue zur Grand
Army Plaza hinauf, wo Walter einen Kutscher anhielt, der sich auf dem
Kutschbock in Decken gehüllt hatte.
    »Eine Runde durch den Park, guter Mann!« sagte Walter. »Und ich möchte
hinzufügen, daß ich das schon immer habe sagen wollen.«
    »Und darf ich sagen«, trällerte der Kutscher mit einem starken
irischen Akzent, »daß ich das Gefühl habe, daß Sie einen über den Durst
getrunken haben.«
    »Nicht nur einen«, sagte Walter, als er Anne auf den Rücksitz der
Kutsche half. Der Kutscher reichte ihnen eine Decke.
    »Ich habe versprochen, mit ihr zu schmusen«, sagte Walter.
    »Nehmen Sie die Decke«, riet ihm der Kutscher.
    Walter zog die Decke um sich und Anne und ließ dann den Arm
daruntergleiten, um Anne zu sich heranzuziehen.
    Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, worauf das Pferd mit einem
langsamen Klipp-Klapp lostrabte, das der leise fallende Schnee dämpfte. Der
Park bei Nacht war eine Studie in Schwarz und Silber. Die Bäume glitzerten vor
Eis und funkelten im Mondschein.
    »Du bist doch ein Romantiker«, sagte sie. »Küß
mich, Dummkopf.«
    Er küßte sie fast züchtig auf die Lippen und sagte: »Es ist
Heiligabend.«
    »Oh, und jetzt willst du wohl deine Geschenke aufmachen?« sagte sie
spöttisch. »Vergiß es, mein Kleiner, es ist viel zu kalt. Ein Mädchen könnte
erfrieren, wenn sie in einer solchen Nacht ihre Tugend opfert. Obwohl ich sonst
die Liebe al fresco durchaus genieße.«
    »Ich dachte gerade über die Schönheiten der Jahreszeiten nach«, sagte
Walter unschuldig.
    »Ach, tatsächlich?«
    »Ja, das habe ich.«
    Sie rückte näher an ihn heran.
    »Sag mir eins«, flüsterte sie. »Gehöre ich auch zu den Schönheiten der
Jahreszeit?“
    »Du bist die größte.“
    »Ich liebe dich.«
    »Wie ich dich«, sagte er. »Oder so ähnlich.«
    »Laß uns mit dem Schmusen anfangen.«
    Sie küßten sich und schmusten, und der Kutscher sang leise ein
gälisches Lied vor sich hin, aber in Wahrheit für sie. Und wenn Walter sich
hätte wünschen können, an diesem Morgen des Weihnachtstages irgendwo auf
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