Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall
Autoren: Dieter Woelm
Vom Netzwerk:
mehr konnte ich im Halbdunkel nicht erkennen. Ich versuchte, meine Geschichte weiterzuerzählen, doch die Kinder waren alle wie aus dem Häuschen und von hinten hörte ich schon: »Die Prinzessin kommt!«
    Dann sah ich es auch: Tapp, tapp, tapp, kam eine junge Frau in einem hellblauen Sommerkleid auf mich zu. Und im nächsten Augenblick blieb mir das Herz fast stehen. Es war Melanie! Melanie an Krücken und mit einem metallisch glänzenden Gestell um den Hals.
    »Es ist die Prinzessin«, hörte ich die Kinder flüstern. »Sie braucht Krücken, aber sie lebt.«
    Ich war sprachlos. Ich ging auf sie zu. Tap, tap, tap, machten meine Krücken. Tap, tap, tap, machten ihre Krücken. Ich sah ihr Lächeln, ihren wunderschönen Mund und ihre umwerfenden Beine, die sich noch etwas unbeholfen vorwärtsbewegten.
    »Hallo, Bertram«, hauchte sie mir entgegen.
    »Hallo, Melanie«, freute ich mich.
    Dann ging unsere Begrüßung in einem höllischen Lärm unter.
    »Küssen«, forderte zuerst das vorwitzige Bürschchen aus der zweiten Reihe und anschließend verbreiteten sich die Rufe im ganzen Raum, erfüllten alle Reihen, die Kinder standen auf und wollten nur das eine sehen, nämlich, dass der König die Prinzessin küsste. Dementsprechend machte ich noch einen Schritt nach vorn. Sie streckte ihre Hände nach mir aus. Ich berührte ihre Fingerspitzen. Wie elektrisiert war ich. Die Kinder kreischten vor Begeisterung. »Küssen, küssen!«, schrien sie jetzt rhythmisch. Ich sah Melanies Gesicht näher kommen, strich ihr ganz vorsichtig über ihr dunkles Haar, roch ihr Parfum, roch ihre Haut, und auf einmal lagen ihre Lippen auf den meinen und wir küssten uns.
    Auf einen Schlag war es ganz still im Raum. Die Kinder sahen ganz genau zu. Aber es war mir egal. Wir küssten uns, als ob der Rest des Tages nur dafür vorgesehen wäre, und als wir endlich wieder Luft holten, brach ein ohrenbetäubender Jubel los.
    »Du musst mit nach vorn kommen«, flüsterte ich Melanie zu. »Du bist jetzt meine Prinzessin.«
    So gingen wir beide nach vorn und standen mit unseren Krücken nebeneinander. Die Kinder beruhigten sich wieder.
    »Nun wollt ihr sicher noch wissen, wie der junge König seine Prinzessin wirklich gefunden hat«, sagte ich.
    »Ja«, riefen die Kinder.
    »Habt ihr es nicht selbst gesehen?«, fragte ich.
    Stille. Die Kinder überlegten. Dann rief ein kleines Mädchen aus der vierten Reihe: »Sie hat ihn gefunden.«
    »Richtig. So könnte man es sagen«, erzählte ich weiter. »Aber in Wirklichkeit haben sich die beiden gefunden. Er hatte nach ihr gesucht, auf Krücken und unter Schmerzen, und sie hatte nach ihm gerufen im Zauberwald, in dem der Wunderheiler wohnte, bis er sie endlich finden konnte und mit auf sein Schloss nahm. Dort fand die Hochzeitsfeier statt und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.«
    Nachdem ich die Geschichte fertig erzählt hatte, sah ich, dass Isabell gegangen war. Ihr Platz war leer und es machte mich ein wenig traurig. Aber viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Wie üblich bestürmten mich die Kinder wegen der Autogramme und an diesem Tag gab es sogar viele, die auch von der Prinzessin ein Autogramm erbaten.
    »Unterschreib als Prinzessin Melanie«, hatte ich ihr zugeflüstert und so signierte sie Prospekte, Eintrittskarten und Bierdeckel mit mir zusammen. Anschließend gingen wir zum Turmzimmer. Melanie konnte die Treppen besser steigen als ich. Sie zog nur das rechte Bein etwas nach und musste ihren Kopf ganz aufrecht halten, da er in dem Gestell auf ihren Schultern abgestützt war.
    »Tut das Ding weh?«, fragte ich.
    »Nein, überhaupt nicht«, lachte sie. »Ich habe mich an den Fixateur gewöhnt.«
    »Musst du ihn noch lange tragen?«
    »Wahrscheinlich vier Wochen. Professor Ducrot will kein Risiko eingehen«, antwortete Melanie. »Er meint, dass ich nur eine kleine Narbe im Nacken behalten werde.«
    Sie sah mich unsicher an, schien zu fürchten, dass ich sie mit Narbe nicht mehr mögen würde.
    »Na, Gott sei Dank«, sagte ich, »das ist doch nicht schlimm. Ich werde dir eine schöne Halskette schenken und schon ist die Narbe nicht mehr zu sehen.«
    Melanie strahlte. »Meinst du wirklich?«
    Die Kinder folgten wie üblich zum Turmzimmer, um dort dem König bei der Arbeit zuzusehen. Sie wunderten sich, dass ich mit Melanie Französisch sprach.
    »Sie sprechen anders«, hörte ich sie flüstern und irgendwo sagten die Eltern: »Das ist Französisch.«
    Als wir das Turmzimmer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher