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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung
Autoren: Georges Simenon
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pion zu verwandeln!«
    »Isaac Goldberg kam in seinem eigenen Wagen, einem Minerva, hier an«, unterbrach ihn Maigret. »Er wurde erwartet, denn es ging nicht darum, ihm die Diamanten abzukaufen, auch nicht zu einem niedrigen Preis, sondern sie ihm zu stehlen. Und um sie ihm stehlen zu können, mußte er kaltgemacht werden. Es waren also Leute in der Werkstatt oder vielmehr in dem Haus dahinter …«
    Absolutes Schweigen! Dies war der wunde Punkt. Wieder musterte Maigret ein Gesicht nach dem anderen, bemerkte zwei Schweißtropfen auf der Stirn des It a lieners.
    »Du bist der Mörder, nicht wahr?«
    »Nein! Es war … es war …«
    »Wer war es?«
    »Die … die waren es!«
    »Er lügt!« brüllte Monsieur Oscar.
    »Wer war mit dem Mord beauftragt?«
    Und der Werkstattbesitzer warf lässig dahin:
    »Der Typ dort oben, wer sonst?«
    »Wiederhol das!«
    »Der Typ dort oben!«
    Aber seine Stimme klang schon nicht mehr so überzeugt.
    »Du, komm her!«
    Maigret deutete auf Else. Er strahlte die Sicherheit eines Kapellmeisters aus, der die unterschiedlichsten I n strumente dirigiert und dabei doch genau weiß, daß ihr Zusammenspiel vollkommene Harmonie sein wird.
    »Bist du in Kopenhagen geboren?«
    »Wenn Sie mich duzen, wird man glauben, wir hätten miteinander geschlafen.«
    »Antworte!«
    »In Hamburg.«
    »Was war dein Vater?«
    »Hafenarbeiter.«
    »Lebt er noch?«
    Ein Schauer überlief sie von Kopf bis Fuß. Sie sah sich mit einem betrübt-stolzen Blick nach ihren Kompagnons um.
    »Er ist in Düsseldorf hingerichtet worden.«
    »Deine Mutter?«
    »Eine Säuferin.«
    »Was hast du in Kopenhagen gemacht?«
    »Ich war die Geliebte eines Matrosen … Hans. Ein gutaussehener Kerl, den ich in Hamburg kennengelernt hatte und der mich mitgenommen hat. Er war Mitglied einer Verbrecherbande. Eines Tages wurde beschlossen, in eine Bank einzubrechen. Alles war vorbereitet. In einer Nacht sollten wir um Millionen reicher sein! Ich stand Schmiere. Aber es muß uns jemand verraten h a ben, denn als die Männer drinnen den Panzerschrank knacken wollten, umzingelte uns die Polizei.
    Es war Nacht. Man sah nichts. Wir wurden auseinandergesprengt. Schüsse fielen. Schreie. Sie waren hinter uns her. Ich wurde in die Brust getroffen, und ich rannte los. Zwei Polizisten schnappten mich. Den einen habe ich gebissen, den anderen so in den Bauch getreten, daß er mich loslassen mußte.
    Aber sie waren mir immer noch auf den Fersen. Da sah ich eine Parkmauer. Ich schwang mich hinauf und ließ mich auf der anderen Seite buchstäblich hinunterfallen. Als ich wieder zu mir kam, stand ein großer ju n ger Mann vor mir. Sehr schick angezogen, ein Junge aus besseren Kreisen. Er sah mich bestürzt und zugleich mi t leidig an …«
    »Andersen?«
    »Das ist nicht sein richtiger Name. Er wird ihn Ihnen nennen, wenn ihm das paßt. Ein sehr bekannter Name. Leute, die bei Hofe verkehren, die die eine Hälfte des Jahres in einem der schönsten Schlösser Dänemarks verbringen und die andere Hälfte in einem Herrschaft s haus mit einem Park, der so groß wie ein ganzes Stad t viertel ist.«
    Ein Inspektor trat in Begleitung eines leicht hinkenden kleinen Mannes ein. Es war der vom Chirurgen a n geforderte Arzt. Er zuckte zusammen, als er diese mer k würdige Versammlung und vor allem die vielen Han d schellen sah. Man führte ihn rasch in den ersten Stock hinauf.
    »Danach …«
    Monsieur Oscar lächelte hämisch. Else warf ihm einen wütenden, fast gehässigen Blick zu.
    »Das können die nicht verstehen«, murmelte sie. »Carl hat mich im Haus seiner Eltern versteckt und mich gemeinsam mit einem Freund, der Medizin studierte, gepflegt. Sein Auge hatte er schon damals verl o ren gehabt. Es war bei einem Flugzeugunglück geschehen. Er trug ein schwarzes Monokel. Ich glaube, er hielt sich für alle Zeiten entstellt. Er war überzeugt, daß keine Frau ihn je lieben könnte, daß der Anblick der Narben und seines künstlichen Auges für jede abstoßend sein müßte …«
    »Hat er dich geliebt?«
    »Nicht direkt. Ich habe das nicht gleich verstanden. Und die da …«, sie deutete auf ihre Komplizen, »werden es nie begreifen. Die Familie war protestantisch. Am A n fang dachte Carl hauptsächlich daran, eine Seele zu re t ten, wie er sagte. Er hielt mir lange Vorträge. Er las mir aus der Bibel vor. Gleichzeitig hatte er Angst vor seinen Eltern. Eines Tages dann, als ich einigermaßen wiederhe r gestellt war, küßte er mich plötzlich auf den Mund und lief
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