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Maigret zögert

Maigret zögert

Titel: Maigret zögert
Autoren: Georges Simenon
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meistens hatte man sich weniger gewählt ausgedrückt und hatte vor allem gewisse Sätze unterstrichen. Oft waren diese Briefe mit roter oder grüner Tinte geschrieben, und viele enthielten Rechtschreibfehler.
    Diese Hand hier hatte nicht gezittert. Es war ein klares Schriftbild, ohne unnütze Schnörkel und ohne einen Fehler.
    Er hob das Papier gegen das Licht und las das Wasserzeichen: Morvan-Velin.
    Jedes Jahr bekam er Hunderte anonymer Briefe. Bis auf ganz wenige Ausnahmen waren sie auf billigem Papier geschrieben, das überall in der Stadt in den Gemischtwarenhandlungen erhältlich war, und manchmal waren die Wörter aus Zeitungen herausgeschnitten.
    »Keine präzise Drohung«, murmelte er. »Eine dumpfe Angst... Der Figaro und der Monde, zwei Tageszeitungen, die vor allem von der intellektuellen Schicht gelesen werden.«
    Er blickte die drei wieder an.
    »Kümmerst du dich darum, Lapointe? Als erstes solltest du dich mit dem Papierfabrikanten in Verbindung setzen, den du bestimmt im Morvan findest.«
    »Verstanden, Chef.«
    So begann ein Fall, der Maigret mehr Sorgen machen sollte als viele der Verbrechen, von denen auf den Titelseiten der Zeitungen die Rede ist.
    »Du gibst die Annonce auf!«
    »Im Figaro ?«
    »In beiden Zeitungen.«
    Eine Glocke klingelte zum Rapport, dem richtigen Rapport, und Maigret begab sich mit einer Akte in der Hand ins Büro des Direktors. Auch hier stand das Fenster offen, und Straßenlärm drang herauf. Einer der Kommissare hatte einen Mimosenzweig im Knopfloch stecken, und er meinte erklären zu müssen:
    »Ich habe ihn auf der Straße gekauft. Es ist für einen guten Zweck.«
    Maigret sagte nichts von dem Brief. Er genoss seine Pfeife, beobachtete gemütlich die Gesichter seiner Kollegen, die einer nach dem anderen ihre kleinen Problemchen vortrugen, und er rechnete sich im Geiste vor, wie oft er an dieser Zeremonie schon teilgenommen hatte. Tausende Male!
    Aber viel öfter noch hatte er den Kreiskommissar, von dem er damals abhing, darum beneidet, dass er jeden Morgen das Allerheiligste betreten durfte. Musste das nicht herrlich sein, Chef einer Kriminalabteilung zu sein? Damals hatte er nicht davon zu träumen gewagt, sowenig wie heute Lapointe oder Janvier oder gar sein guter Lucas!
    Dennoch war der Traum Wirklichkeit geworden. Nach all den Jahren war ihm das kaum noch bewusst, doch an einem Morgen wie diesem, wenn die Luft so würzig roch und jedermann lächelte, anstatt auf den Lärm der Autobusse zu schimpfen, dachte er gerne wieder daran.
    Als er eine halbe Stunde später in sein Büro zurückkam, war er überrascht, Lapointe am Fenster stehen zu sehen. Sein modischer Anzug ließ ihn schlanker erscheinen, größer und viel jünger. Vor zwanzig Jahren wäre es einem Inspektor nicht gestattet gewesen, sich so zu kleiden.
    »Es war fast zu einfach, Chef.«
    »Du hast den Papierfabrikanten ausfindig gemacht?«
    »Geron & Sohn. Sie besitzen seit drei oder vier Generationen die Mühlen vom Morvan in Autun. Es ist keine Fabrik. Es handelt sich um einen Handwerksbetrieb. Das Papier wird handgeschöpft, und es wird zu Luxusausgaben, vor allem von Gedichtbänden, oder zu Briefpapier verarbeitet. Die Gérons beschäftigen nur etwa zehn Arbeiter. Wie sie mir sagten, gibt es noch ein paar solcher Mühlen in der Gegend.«
    »Hast du den Namen ihres Vertreters in Paris?«
    »Sie haben keinen Vertreter. Sie arbeiten direkt mit den Kunstverlegern und mit zwei Papierwarengeschäften zusammen, das eine in der Rue du Faubourg-Saint-Honore, das andere in der Avenue de l’Opéra.«
    »Ist das eine nicht ganz oben links am Faubourg- Saint-Honore?«
    »Ich glaube, ja. Der Nummer nach... Die Papeterie Roman.«
    Maigret kannte sie, denn er war dort oft vor dem Schaufenster stehengeblieben, wo Einladungs- und Visitenkarten auslagen, auf denen man Namen las, die zu hören man nicht mehr gewohnt war: Graf und Gräfin zu Vaudry geben sich die Ehre... Baronesse von Grand-Lussac gibt bekannt...
    Prinzen, Herzöge, echte oder falsche, bei denen man sich fragte, ob sie überhaupt noch lebten. Sie luden zu Diners, zu Jagden, zu Bridgepartien, zeigten die Vermählung ihrer Tochter oder die Geburt eines Kindes an, und all das auf kostbarem Papier.
    Im zweiten Schaufenster konnte man Schreibunterlagen mit eingeprägtem Wappen und ledergebundene Hefte für den täglichen Küchenzettel bewundern.
    »Du gehst am besten mal hin.«
    »Zu Roman?«
    »Ich habe den Eindruck, dass dieses Viertel eher in Frage
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