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Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Titel: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Autoren: Georges Simenon
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Frauen vor dem Häuschen des Kapitäns, dort neben dem Leuchtturm. Die Haustür stand auf. Das Auto des Arztes fuhr an Maigret vorbei. Der Dorfpolizist heftete sich an Maigrets Fersen.
    »Man spricht von Vergiftung … Er soll ganz grün aussehen!«
    Maigret betrat das Haus und sah Julie langsam die Treppe herunterkommen. Sie weinte, ihre Lider waren geschwollen, ihre Wangen gerötet. Man hatte sie aus dem Zimmer des Sterbenden geschickt, den der Arzt gerade untersuchte.
    Unter ihrem hastig übergestreiften Mantel trug sie noch ein langes weißes Nachthemd, und ihre nackten Füßen steckten in Pantoffeln.
    »Es ist entsetzlich, Herr Kommissar! Man kann sich so etwas gar nicht vorstellen! Gehen Sie schnell hinauf! Vielleicht …«
    Maigret trat in das Zimmer, als sich der Arzt gerade vom Bett aufrichtete. Sein Gesicht sagte deutlich, daß hier nichts mehr zu machen war.
    »Polizei …«
    »Oh! Gut! … Es geht zu Ende. Vielleicht noch zwei oder drei Minuten. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es Strychnin.«
    Er ging das Fenster öffnen, weil der Sterbende, der mit offenem Mund dalag, keine Luft zu bekommen schien. Wieder sah man – wie ein unwirkliches Bild – die Sonne, den Hafen, Boote mit schlaffen Segeln und die Fischer, die Körbe voll schimmernder Fische in Kisten abfüllten.
    Im Kontrast dazu sah Joris’ Gesicht noch gelber oder grüner aus. Eine undefinierbare, neutrale Farbe, die gar nichts mehr mit dem zu tun hatte, was man sich unter Hautfarbe vorstellt.
    Seine Glieder krümmten sich unter wiederholten Zuckungen, und doch blieb sein Gesicht ruhig, nichts regte sich darin, und sein Blick war auf die Wand direkt vor ihm geheftet.
    Das eine Handgelenk ruhte in der Hand des Arztes, der das Schwächerwerden des Pulses verfolgte. Schließlich erkannte Maigret an dessen Gesichtsausdruck:
    »Aufpassen … Es geht zu Ende …«
    Und da geschah etwas Unerwartetes und Rührendes. Man konnte nicht erkennen, ob der Unglückliche seinen Verstand wiedererlangt hatte. Man sah nur ein starres Gesicht.
    Und plötzlich belebte es sich. Die Züge spannten sich wie im Gesicht eines Kindes, das gleich weinen will. Der schmerzliche Ausdruck eines sehr unglücklichen Menschen, der nicht mehr kann.
    Und zwei dicke Tränen kullerten ihren Weg suchend über seine Wangen.
    Fast im selben Augenblick ertönte die leise Stimme des Arztes:
    »Es ist aus.«
    War das zu fassen? Das Ende trat genau in dem Moment ein, als Joris die zwei Tränen vergoß!
    Und während diese Tränen noch lebten, zu den Ohren hin rollten, die sie aufnahmen, war er, der Kapitän, bereits tot.
    Auf der Treppe wurden Schritte laut. Unten stand die schluchzende Julie, umringt von Frauen. Maigret ging bis zum Treppenabsatz und sagte langsam und deutlich:
    »Niemand darf das Zimmer betreten!«
    »Ist er …?«
    »Ja!« sagte er schlicht.
    Er ging zurück in den sonnendurchfluteten Raum, wo der Arzt pro forma eine Spritze fürs Herz aufzog.
    Auf der Gartenmauer ruhte eine weiße Katze.
    2
    Der Nachlaß
    V
    on unten, wahrscheinlich aus der Küche, drangen Julies spitze Schreie herauf, die sich gegen die sie umringenden Nachbarinnen wehrte.
    Durch das immer noch weit geöffnete Fenster sah Maigret Leute, teils gehend, teils laufend, aus dem Dorf herbeiströmen. Kinder auf Fahrrädern, Frauen mit ihrem Baby auf dem Arm, Männer in Holzpantinen. Es war ein ungeordneter, gestikulierender kleiner Zug, der die Brücke erreichte, sie überquerte und sich auf das Haus des Kapitäns zu bewegte – angezogen wie von einem durch die Stadt ziehenden Wanderzirkus oder einem Autounfall.
    Bald wurde das Stimmengemurmel da draußen so laut, daß Maigret das Fenster schloß, dessen Musselinvorhänge das Sonnenlicht dämpften und den Raum in eine friedliche und diskrete Stimmung versetzten. Die Tapete war rosa, die hellen Möbel waren blankpoliert. Eine Vase voller Blumen thronte auf dem Kamin.
    Der Kommissar betrachtete den Arzt, der ein Glas und eine Karaffe, die auf dem Nachttisch abgestellt waren, eingehend untersuchte. Er stippte seinen Finger in den Wasserrest und benetzte seine Zungenspitze.
    »Ist es das?«
    »Ja. Der Kapitän muß die Gewohnheit gehabt haben, nachts zu trinken. Soweit ich das beurteilen kann, hat er es diesmal gegen drei Uhr früh getan, aber ich verstehe nicht, warum er nicht gerufen hat.«
    »Aus dem einfachen Grund, weil er weder sprechen noch den geringsten Laut von sich geben konnte«, brummte Maigret.
    Er rief den Dorfpolizisten und beauftragte
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