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Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt

Titel: Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
Autoren: Sven Regener
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Fleisch war weg und ich hoffte
nur, dass Hans-Peter nicht mitbekommen hatte, wie ich zusammengezuckt war, aber
der Kleine hatte genug mit seinem
eigenen Schrecken zu tun, er schrie auf, sprang zurück und zog dabei den
Besenstiel aus dem Käfig. Das Gitter klappte nach unten und er drehte sich zu
mir herum. Ich hob beruhigend die Hände.
    »Kein Grund
zu erschrecken, das ist immer so.«
    »Mann, hab ich mich erschrocken.«
    »Musst du
nicht, ist ganz normal. Der kann dir ja nichts tun, da ist ja immer noch das
Gitter dazwischen – irgendwie.«
    »Mann, hab
ich mich erschrocken.«
    »Okay, der
hat genug. Jetzt den Nächsten.«
    Hans-Peter
guckte mich zweifelnd an, er war ganz blass geworden, der kleine Spargeltarzan.
Dann betrachtete er wieder das Reptilienbecken. Die Lage der Alligatoren
hatte sich verändert, der, der gefressen hatte, war jetzt ganz vorne und im
Wasser, während die beiden anderen weiter hinten, wo das Land war,
übereinanderlagen.
    »Gleich den
Nächsten füttern«, sagte ich.
    »Mach du!«
Hans-Peter hielt mir den Stock hin.
    Ich ging in
die Küche zum Fleisch, Hans-Peter folgte mir mit dem Stock. »Mach du.« Er
klopfte mir mit dem Stock gegen die Hüfte. »Mach du.«
    »Keine Lust
mehr?«, sagte ich.
    »Nee, mach
du!«
    »Willst du
noch zugucken oder willst du gleich zu Hartmut hochgehen?«
    »Die Schule
fängt gleich an«, sagte er. »Ich geh da mal hin.«
    »Aber erst
Hartmut Bescheid sagen!«
    »Au Mann
…«
    »Du hast es
versprochen. Und Entschuldigung sagen.«
    »Au Mann …«
    »Du hast es versprochen.«
    »Na gut …«
    »Hier!« Ich
hielt ihm den Brei hin, den ich gerade noch angerührt hatte. »Iss noch schnell
was. Du sollst ja dicker werden!«
    Er stopfte
sich den Brei rein und dann ging er. Vielleicht zu Hartmut, vielleicht zur
S-Bahn, wer konnte das wissen? Als sich die Tür hinter ihm schloss, war ich ein
bisschen traurig.
    Beim
Alligatorenfüttern merkte ich immer, wie einsam ich war.

5. Schlumheimer für Arme
    Kurz
nach der Fütterung
liefen in der Werkstatt die Anrufe ein. Die Gruppen riefen immer in der halben
Stunde an, nachdem die Kinder in den Unterricht gegangen waren, dann machte
immer einer von den Erziehern Kaffee und die anderen inspizierten die Räume, um
zu notieren, was alles kaputt war, und dann tranken sie Kaffee und einer rief
in der Werkstatt an. Seit Rüdiger nicht mehr mitspielte und ich mir meine Zeit
selber einteilen konnte, versuchte ich, mein Kaffeemachen und Kaffeetrinken mit
ihrem Kaffeemachen und Kaffeetrinken zu synchronisieren, aber die
Kaffeemaschine, die Rüdiger mir hinterlassen hatte, brauchte eine Ewigkeit für
ihren Job, ich hätte sie längst entkalken sollen, aber so läuft das, man repariert
alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, Stühle, Toilettenspülungen,
Kasperletheater, Heizungen, Rasenmäher und zerbrochene Bilderrahmen, aber die
eigene Kaffeemaschine zu entkalken schiebt man immer weiter vor sich her. Wer
weiß, was Dr. Selge dazu zu sagen gehabt hätte, sie war ja nicht nur
Psychiaterin, sondern auch Psychoanalytikerin, als solche hätte sie sicher eine
interessante Theorie dazu gehabt, aber bei mir war sie nur Psychiaterin, an
mich war sie analysemäßig nicht rangekommen, nicht, dass sie es nicht versucht
hätte, sie hatte ja schon
meine Mutter analysiert, da wollte sie natürlich auch mal die Gegenseite
durchchecken, aber ich hatte das abschmettern können: »Das wäre ja
Parteienverrat«, hatte ich gesagt und sie darauf: »Ich bin Ärztin, kein Anwalt,
was denken Sie?!«, als ob ich das nicht gewusst hätte, als Ärztin behandelte
sie mich ja schon die ganze Zeit, seit ich aus Ochsenzoll raus war, daran hatte
es keinen Weg vorbei gegeben, aber Analyse, nein danke, irgendwo musste auch
mal Schluss sein, man kann doch nicht jemanden an seine Ödipuskomplexe lassen,
der schon die eigene Mutter analysiert hat!
    Jedenfalls liefen wie jeden Tag die Anrufe
ein, während die Kaffeemaschine laut vor sich hin gurgelte. Das Telefon war
gleich neben der Kaffeemaschine an der Wand verschraubt, deshalb waren das
anstrengende Telefonate und die Reparaturzettel waren auch gerade alle, da war
ein Besuch bei Frau Schmidt und ihrem Kopierer fällig, einen hatte ich noch
ausgefüllt und dann erst gemerkt, dass es schon der vorletzte war, so beginnen
Tage, an denen man auf die Idee kommen konnte, sein Leben neu zu gestalten,
endlich alles anders zu machen, zum Beispiel morgens erst in die Werkstatt zu
gehen und die Kaffeemaschine anzumachen
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