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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler
Autoren: A Michaelis
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hatte, während Lierski …
    »In dieser Nacht«, flüsterte er, »bin ich … wie sagt man das? Ausgetickt. Es passiert. Manche Dinge sind zu viel. Aber für Michelle gibt es keine Narbe, weil ich sie nicht umgebracht habe. Das ist alles.«
    »Du hast sie … nicht? Aber wer dann?«
    Abel stand auf, ohne die Waffe loszulassen, er stand vor ihr und sah zu ihr hinunter, er war größer als sie.
    »Da war so viel Blut«, sagte er. »Ich erinnere mich … überall Blut. An meinen Händen, an ihren Händen, auf meinem Hemd, meinem Gesicht, auf den Fliesen, in Schlieren verschmiertes Blut, auf dem kleinen runden Teppich, ich habe ihn später weggeworfen, denTeppich … auf den weißen Fliesen war es rot. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass Blut so rot ist, so hellrot: große herabgefallene, zerborstene Blutstropfen gleich Mohnblumen. Ein Meer aus Blut, ein rotes, unendliches Meer, purpurne Wogen, karminrote Gischtkämme, spritzende Farbe … Ich weiß noch, dass ich das damals gedacht habe. Micha schlief schon. Ich habe Michelle gefunden.
    Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, lange, tiefe Schnitte an beiden Armen, sie wollte sichergehen. Blinde weiße Katze. Egoistisches Biest. Sie hat keinen Augenblick an uns gedacht, sie ist vor ihren eigenen Problemen weggelaufen, vor ihrem verpfuschten Leben, den falschen Männern, dem Alkohol, der Arbeitslosigkeit, den Drogen. Wir haben einen alten Fahrradanhänger im Keller, wir haben damit manchmal Sachen vom Sperrmüll geholt. Ich habe sie auf den Anhänger gelegt und bin mit ihr zum Elisenhain hinausgefahren. Sie mochte die Buschwindröschen so sehr, wir sind dort spazieren gegangen, als ich klein war, lange vor Rainer Lierski … ich dachte, jemand würde mich sehen. Ich war mir sicher. Beinahe wünschte ich es mir. Aber niemand hat mich gesehen. An diesem Tag ist die Insel gesunken und das Meer war rot.«
    Er verstummte. Er hob die Pistole – und steckte sie in die Tasche.
    »Du hast es wirklich geglaubt, ja?«, flüsterte er. »Dass ich meine Mutter erschossen habe? Dass ich dich erschießen würde?«
    »Was tun wir jetzt?«, flüsterte Anna.
    »Ich weiß es nicht. Sag du es mir. Alles ist zu Ende.«
    »Nein!«, wisperte sie. »Nein. Nicht für mich. Alles fängt erst an. Wir sind siebzehn.«
    Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihn so fest an sich, wie sie konnte. »Willst du damit sagen, dass du bleibst? Trotz allem?«,flüsterte er. »Ich bin ein Mörder, Anna. Ich bin ein Mörder und ein Stricher und ein Dealer. Ich bin alles, was nicht geht in deiner Welt.«
    »Ich bleibe nicht bei dem Mörder«, sagte sie, ihre Worte halb erstickt an seiner Schulter. »Ich bleibe nicht bei dem Opfer Abel Tannatek oder dem Täter Abel Tannatek. Ich bleibe beim Märchenerzähler.«
    Sie zog ihn mit sich aus dem Bad, hinüber ins Wohnzimmer. Sie zog ihn mit sich aufs Sofa. Sie merkte, dass sie schon wieder heulte. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie wusste nicht, wer begann, wen zu küssen, es war ein verzweifelter Kuss, ein Kuss vor der scharfen Kante, wo das Eis abbrach und das Tauwasser in einem unüberwindbaren Strom vor dem Festland vorüberschoss.
    »Wir finden eine Lösung«, flüsterte Anna. »Es gibt eine. Es muss eine geben.«
    Aber zunächst erschien etwas anderes wichtiger und es geschah ganz von selbst. Die allerunwahrscheinlichste aller Sachen. Vielleicht geschah es, weil nichts mehr zwischen ihnen stand, keine Geheimnisse, keine Lügen, kein Misstrauen, gar nichts. Anna spürte Abels Hände unter ihrem T-Shirt, vorsichtig, tastend, zögernd, und sie zwang diese Hände diesmal zu nichts, sie ließ ihnen Zeit, sie dachte an ihren Traum von den weißen Segeln auf dem Deck des grünen Schiffs, dessen Namen sie erst so spät an der Bordwand gelesen hatten.
    Sie wand sich aus ihren Kleidern, verhedderte sich und lachte, irgendwo glitt eine Pistole aus einer Tasche, und Anna sah weg, die Pistole war unwichtig geworden; und schließlich saßen sie nackt auf dem Sofa, sie auf seinem Schoß, auf eine nicht ganz jugendfreie Art, und sie hoffte wirklich, dass Micha schlief.
    KüsT eUCh, dachte sie, Schrift an einer Scheibe.
    »Warte«, flüsterte er, und einen Moment lang dachte sie, es wäre wieder etwas verkehrt. Seine Hand suchte in der Sofaritze neben ihm nach etwas. Eine viereckige Packung. Sie lachte wieder, lautlos. Das war also alles. Ein Kondom. Natürlich. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie es kam, dass er Kondome in Sofaritzen versteckte, und mit
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