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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler
Autoren: A Michaelis
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ein aufgespraytes schwarzes Hakenkreuz, das jemand anders später durchgestrichen hatte. Man sah es trotzdem.
    Eine Schule. Es war eine Schule, eine Grundschule offenbar. Verlassen, jetzt nach dem Mittagsklingeln, verlassen und verwaist. Anna schob ihr Rad in die struppigen Büsche am Tor, stellte sich daneben und versuchte, unsichtbar zu sein. Zuerst dachte sie, vielleicht gehörte diese Schule zu Abels Klientel: Klingeling – der polnische Kurzwarenhändler ist da! Vielleicht gab es auch ältere Schüler hier. Ein halb gestohlenes Fahrrad hing, sinnlos festgekettet, aneiner Laterne, nur noch ein Skelett aus Rahmen und Lenker. Eine der Mülltonnen auf dem Hof war umgefallen oder umgeworfen worden und der Februarwind fegte eine Handvoll Abfall über den Hof. Der Rahmen der doppelflügeligen Tür war aus rotem Plastik, ans Glas hatte jemand eine Schneeflocke aus Papier geklebt. Es war ein Versuch, die Dinge freundlicher zu gestalten. Aber der Versuch war zu bemüht. Die ganze angestrengte Fröhlichkeit der Schule brannte in Annas Augen. Sie machte den Februarwind nur noch kälter, machte das Brüllen des Betrunkenen vom Netto-Parkplatz hinter dem Zaun noch lauter.
    Auf der Betonstufe vor der Tür saß ein kleines Mädchen in einer schmutzig-pinkfarbenen Daunenjacke, die Arme um die Knie geschlungen, frierend. Anna beobachtete, wie Abel über den leeren Schulhof ging, und fragte sich, ob es ein Maximum an Trostlosigkeit gab. Oder ob sie einfach immer weiterwuchs, ins Unendliche, Trostlosigkeit in allen Facetten, wie die Farbe Blau, über die sie nachgedacht hatte.
    Und dann geschah etwas Unerwartetes. Die Trostlosigkeit zerbrach.
    Abel begann zu rennen. Jemand rannte ihm entgegen: das Mädchen in der zerschlissenen rosa Jacke. Sie flogen aufeinander zu, die kleine Gestalt und die große Gestalt, die Arme ausgebreitet – ihre Füße schienen den Boden nicht mehr zu berühren –, und jetzt trafen sie sich in der Mitte. Die große Gestalt hob die Kleine auf, wirbelte sie in der Luft herum, einmal, zweimal, dreimal, in einem Strudel aus hellem Kindergekicher.
    »Es ist wahr«, flüsterte Anna hinter ihrem Busch. »Gitta, es stimmt. Er hat eine Schwester. Micha.«
    Abel hatte das rosa Kind abgesetzt, und Anna duckte sich, dennjetzt drehte er sich um und ging zurück zu seinem Rad. Er sah sie nicht. Er sah sich nicht um. Er sprach mit Micha. Er lachte. Er hob sie hoch und setzte sie auf den Gepäckträger seines Rades, sagte noch etwas zu ihr und stieg auf. Anna verstand keines seiner Worte, doch seine Stimme klang anders als in der Schule. Jemand hatte ein Licht zwischen den Sätzen angezündet. Vielleicht, dachte Anna, sprach er eine andere Sprache. Polnisch. Wenn Polnisch so leuchtete, würde sie es lernen. Mach dir nichts vor, Anna, sagte Gitta in ihrem Kopf. Du würdest wahrscheinlich auch Hinterostmandschurisch lernen, um mit Tannatek zu sprechen. Und Anna antwortete mit einem gewissen Ärger: Er heißt Abel. Aber dann fiel ihr ein, dass Gitta überhaupt nicht da war und dass sie sich besser noch tiefer ins Februargebüsch duckte, wenn sie nicht wollte, dass Abel und Micha sie sahen. Sie sahen sie nicht. Abel fuhr vorbei, ohne nach rechts und links zu gucken, und Anna hörte ihn sagen:
    »Sie haben Königsberger Klopse heute, es stand auf dem Plan.«
    »Klopse«, wiederholte die helle Kinderstimme hinter ihm. »Klopse mag ich. Wir könnten auch nach Königsburg verreisen, irgendwann, oder?«
    »Irgendwann«, antwortete Abel. »Aber jetzt verreisen wir zuerst zur Mensa und …«
    Und dann waren sie zu weit weg und Anna konnte nichts mehr verstehen. Aber sie verstand, dass es keine andere Sprache war, die das Licht zwischen Abels Sätzen angezündet hatte, weder Polnisch noch Hinterostmandschurisch, es war ein Kind in einer rosa Daunenjacke, ein Kind mit einem türkisen Schulranzen und zwei blonden, strähnigen Zöpfen, ein Kind, das sich im kalten Wind mit handschuhlosen, rot gefrorenen Händen an seinen Rücken klammerte.
    Zur Mensa. Wir verreisen zur Mensa.
    Die Uni-Mensa befand sich in der Stadt, am Beginn der Einkaufsstraße, Anna war schon mit Gitta da gewesen. Es gab eine Cafete dort, mit billigem Kuchen, und Gitta war ab und zu in irgendeinen Studenten verliebt. Anna folgte Abel nicht. Sie fuhr über die Straße und zum Ryck hinunter, dessen schmales Flussbett parallel zur Wolgaster Straße verlief. Am Ryck entlangzufahren war ein Umweg, aber sie wollte nicht, dass Abel sie doch noch sah. Sie beeilte sich.
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