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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler
Autoren: A Michaelis
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noise?«, fragte Anna, aber eigentlich wollte sie schon garkein Gespräch mehr anfangen, sie fragte es nur, um es gefragt zu haben, ihr Herz raste, sie wollte weg, weg von dem zu kalten Schulhof, weg von Tannatek, dem Kampfhund, weg von den Tabletten in seiner Jackentasche, weg, weg, weg. Sie sehnte sich auf einmal nach dem kühlen Silber der Querflöte in ihren Händen. Nach einer Melodie. Keinem weißen Rauschen, einer wirklichen Melodie.
    Sie erwartete nicht, dass Tannatek ihr wieder einen der hoffnungslos alten Ohrstöpsel geben würde. Doch genau das tat er. Sie hielt ihn an ihr Ohr, weil es von ihr erwartet wurde, nicht, weil sie es wollte. Das ganze Projekt Ich-habe-Verständnis-für-den-polnischen-Kurzwarenhändler-und-werde-ein-besserer-Mensch war ihr auf einmal zuwider.
    Aus dem Ohrstöpsel drang kein weißes Rauschen. Sondern eine Melodie. Als hätte jemand Annas Wunsch gehört. »Es ist nicht immer white noise «, sagte Tannatek.
    Die Melodie war so alt wie der Walkman, nein, älter. Suzanne. Anna kannte den Text, seit sie klein war.
    Sie gab den Stöpsel zurück, perplex.
    »Cohen? Du hörst Cohen? Den hört meine Mutter.«
    »Ja«, sagte er, »das hat meine Mutter auch getan. Ich weiß nicht mal, wie sie darangekommen ist. Sie kann kein Wort verstanden haben. Sie konnte kein Englisch. Und sie war zu jung für diese Sorte von Musik.« Er zuckte die Schultern.
    »War?«, fragte Anna. Es war noch kälter geworden, gerade eben, fünf Grad kälter. »Ist sie …?«
    »Tot?«, fragte Abel hart. »Nein. Nur weg. Seit zwei Wochen. Aber es macht keinen Unterschied. Ich denke nicht, dass sie wiederkommt. Micha … Micha denkt, sie kommt wieder. Meine Schwester, sie …«
    Er stockte, hob den Blick und sah Anna an. »Bin ich völlig übergeschnappt? Warum erzähle ich dir das?«
    »Vielleicht, weil ich frage?«
    »Es ist zu kalt«, sagte er und schlug den Kragen des Parkas hoch. Sie blieb stehen, während er sein Rad aufschloss. Es war beinahe genau wie bei ihrem ersten Gespräch – Worte in der eisigen Luft zwischen Fahrradständern, gestohlene Worte, irgendwie heimatlos, zwischen Tür und Angel. Man konnte später behaupten, man hätte gar nichts gesagt.
    »Fragt denn sonst niemand?«, sagte Anna. Er schüttelte den Kopf, befreite das Rad.
    »Wer denn? Es gibt niemanden.«
    »Es gibt eine Menge Leute«, sagte Anna. »Überall.«
    Sie machte eine weit ausladende Geste, die den vereisten Schulhof einschloss, die Schule, die Bäume, das Firmament. Doch es war niemand da. Abel hatte recht: Es gab niemanden. Es gab nur sie beide, Anna und ihn, nur sie unter dem endlos hohen Eishimmel.
    Er hatte das Rad befreit. Zog sich die schwarze Mütze noch tiefer über die Ohren. Nickte, ein Abschiedsnicken vielleicht, oder nur ein Nicken für sich selbst, eine Bestätigung der Tatsache, dass es niemanden gab. Dann fuhr er los.
    Lächerlich, jemanden an einem Freitagmittag mit dem Fahrrad durch die Außenbezirke von Greifswald zu verfolgen. Auch nicht sehr unauffällig. Doch Abel drehte sich nicht um. Der Februarwind war zu kalt, um sich umzudrehen, wenn man Fahrrad fuhr. Sie fuhr hinter ihm die Wolgaster Straße entlang, jene lange, gerade Verkehrsader, die in die Stadt hinein- oder aus der Stadt herausführte, die die Innenstadt mit Gittas abwaschbarem Neubaugebiet verband, mit dem Strand, mit dem Winterwald voll hoher, blattloser Buchen. Mit den Feldern dahinter, mit der Welt. Aufihrem Weg führte die Wolgaster Straße zwischen den Plattenbauten von Schönwalde und dem Ostseeviertel hindurch, Namen, über die Anna jetzt plötzlich lachen musste. Das Lachen schmeckte bitter.
    Abel folgte der Straße nur ein Stück weit, ließ den ewig zähen Strom der Autos dann hinter sich und bog beim Parkplatz des Netto-Ladens ab. Nur wenige Autos standen auf dem Parkplatz, zwei Frauen mit struppigen kurzen Haaren und orangefarbenen Warnjacken lehnten an einer Mülltonne und rauchten, neben sich einen Eimer mit Kies, um die Straße zu streuen. ABMler. Ihre Hände waren rot gefroren. Die Luft roch nach Schnee. Vor dem Eingang des Getränkemarkts schrie ein Betrunkener seinen Hund an. Abel fuhr am Netto vorbei und durch ein Tor in einem grünen Drahtzaun, gesäumt von toten Winterbüschen. Hinter dem Tor stieg er vom Rad. Dort gab es einen Hof mit einem hell gestrichenen Gebäudeklotz und einer Spielplatzburg aus rot-blau-buntem Plastik. Steril abwaschbar. Auf dem Schild »Unbefugten ist der Zutritt verboten«, das am Tor hing, wucherte
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