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Märchen

Märchen

Titel: Märchen
Autoren: Astrid Lindgren
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zu kommen.
    Aber eines Tages blieb Anna mitten auf dem Weg stehen und packte Matthias beim Arm.
    »Matthias«, sagte sie, »die Schule hat nicht geholfen. Ich habe keine Freude in meinem Kinderleben, und ich wünschte, ich lebte nicht bis zum Frühling.«
    Gerade als sie die Worte gesprochen hatte, da sahen sie den roten Vogel. Er saß auf dem Boden, er war so rot gegen den weißen Schnee, so flammend, flammend rot gegen das Weiß.
    Und er sang so klar, daß der Schnee auf den Tannen zu tausend Schneesternen zerbarst, und sie fielen ganz sacht und still zur Erde herab.
    Anna streckte ihre Hände nach dem Vogel aus und weinte.
    »Er ist rot«, sagte sie, »oh, er ist rot.«
    Auch Matthias weinte und sagte: »Er weiß sicher nicht einmal, daß es graue Feldmäuse gibt auf der Welt.«
    Da hob der Vogel seine roten Flügel und flog auf. Und Anna packte Matthias beim Arm und sagte:
    »Fliegt dieser Vogel von mir fort, dann lege ich mich hier in den Schnee und sterbe.«
    Und Matthias nahm sie bei der Hand, und sie liefen hinter dem Vogel her. Er stob durch die Tannen dahin wie eine rote Fackel, und wo er vorüberflog, da fielen Schneesterne zu Boden, ganz sacht und still, so klar sang der Vogel, während er flog. Tief in den Wald hinein ging es, immer weiter fort vom Weg, kreuz und quer flog der Vogel. Anna und Matthias strebten ihm nach durch die Schneewehen, Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, und sie

    stolperten über Steine, die sich unter dem Schnee verbargen.
    Doch ihre Augen glänzten vor Eifer, während sie dem Vogel folgten.
    Dann, mit einemmal, war er verschwunden.
    »Finde ich den Vogel nicht wieder, dann lege ich mich hier in den Schnee und sterbe«, sagte Anna.
    Matthias tröstete sie, er streichelte ihre Wange und sagte:
    »Ich höre den Vogel jenseits der Berge singen.«
    »Wie kommt man jenseits der Berge?« fragte Anna.
    »Durch die dunkle Schlucht hier«, sagte Matthias. Und er nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich durch die Schlucht. Auf dem weißen Schnee in der Tiefe der Schlucht lag eine leuchtendrote Feder, und da wußten sie, daß sie auf dem rechten Wege waren.
    Immer schmaler wurde die Schlucht, und schließlich war sie so eng, daß sich nur ein schmächtiger Kinderleib hindurchzwängen konnte.
    »Der Weg ist schmal«, sagte Matthias, »aber wir sind noch schmaler.«
    »Ja, dafür hat der Myrabauer gesorgt, daß wir überall hindurch-schlüpfen können«, sagte Anna.
    Und dann waren sie jenseits der Berge.
    »Jetzt sind wir jenseits der Berge«, sagte Anna. »Aber wo ist mein roter Vogel?«
    Matthias blieb still im Winterwald stehen und lauschte.
    »Hinter der Mauer«, sagte er. »Er singt hinter der Mauer dort.«
    Vor ihnen ragte eine hohe Mauer auf, und in dieser Mauer war eine Pforte. Die Pforte stand einen Spaltbreit offen, so als wäre soeben jemand hindurchgegangen und hätte vergessen, sie hinter sich zu schließen. Hohe Schneewehen lagen auf der Erde, und der Wintertag war frostig und kalt, und doch streckte ein Kirschbaum seine blühenden weißen Zweige über die Mauer.
    »Kirschbäume hatten wir auch zu Hause auf Sonnenau«, sagte Anna, »aber selbst dort blühten sie nicht im Winter.«
    Matthias nahm Anna bei der Hand, und dann schritten sie durch die Pforte.
    Und da sahen sie den roten Vogel. Es war das erste, was sie sahen.
    Er saß auf einer Birke, und die Birke hatte krause grüne Blättchen, und es war Frühling. Alle Lieblichkeit des Frühlings überfiel sie im klingenden Hui, tausend kleine Vögel sangen und jubilierten in den Bäumen, es plätscherte in allen Bächen, alle Frühlingsblumen leuchteten, und auf einer Wiese, so grün wie die des Paradieses, spielten Kinder. Ja, es waren viele Kinder, die dort spielten, sie hatten sich Borkenschiffchen geschnitzt, die sie in den Bächen und Gräben schwimmen ließen. Und sie hatten Weidenflöten geschnitten, auf denen sie flöteten, daß es klang, als zwitscherten die Stare im Frühling. Und sie trugen rote und blaue und weiße Kleider und leuchteten wie die Frühlingsblumen im grünen Gras.
    »Sie wissen sicher nicht einmal, daß es graue Feldmäuse gibt auf der Welt«, sagte Anna traurig. Doch in demselben Augenblick sah sie, daß auch sie und Matthias rote Kleider trugen. Auch sie

    trugen rote Kleider. Sie waren nicht länger grau wie die Feldmäuse im Stall.
    »Das ist das Seltsamste, was mir in meinem Kinderleben widerfahren ist«, sagte Anna. »Was ist das für ein Ort, wohin sind wir gekommen? «
    »Sonnenau«, riefen
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