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Madam Wilkin's Palazzo

Madam Wilkin's Palazzo

Titel: Madam Wilkin's Palazzo
Autoren: Charlotte MacLeod
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weggeblieben?« witzelte ein Spaßvogel in der Menge.
    Der Wächter schüttelte den Kopf.
»Versteh’ ich auch nicht. Joe hatte doch auf dem Balkon überhaupt nichts zu
suchen. Sein Posten ist im Tizian-Saal im zweiten Stock. Eine Menge Treppen für
einen alten Mann, aber Joe wollte es partout so. Wundert mich eigentlich, daß
er seine Freundin auch nur für eine Minute alleingelassen hat, wo sich hier
heute viele Besucher aufhalten.«
    »Was für eine Freundin?« fragte
Bittersohn.
    Der Wächter stieß ein verlegenes Lachen
aus. »Wir nennen es immer den großen Tizian, es stellt die Schändung der
Lucretia dar. Wir ziehen Joe immer damit auf, daß er eine Schwäche für diese
Lucretia hat, wissen Sie. Ich meine natürlich, wir haben ihn immer damit
aufgezogen.«
    Inzwischen waren noch mehr Wächter
eingetroffen, und der erste wandte sich erleichtert von seinem toten Kollegen
ab. »Ganz unter uns, Doktor, ich glaube, Joe war sowieso in vielen Dingen ein
bißchen merkwürdig. Das werden Ihnen die anderen Jungs auch bestätigen können.«
    Da die anderen Jungs jedoch wenig Lust
zu haben schienen, sich zu diesem Punkt zu äußern, fuhr ihr Sprecher selbst
fort. »Sehen Sie, wir haben unten im Keller einen Umkleideraum, wo wir unsere
Sachen aufbewahren und uns ab und zu in der Kaffeepause eine Zigarette
genehmigen. Gestern nachmittag bin ich also runtergegangen, und da sehe ich Joe
dasitzen, den Kopf aufgestützt, und er sagt keinen Ton. Ich denke mir,
vielleicht hält er bloß ein kleines Nickerchen, wie man das manchmal so macht.
Ich trinke also meinen Kaffee und lege die Füße hoch. Als meine Pause vorbei
ist und ich gehen will, sitzt Joe immer noch genauso da. Ich sage also: ›Was
ist denn los, Joe? Wieso sitzt du denn immer noch hier? Ich denke, du kannst es
kaum erwarten, zu deiner Freundin zurückzukommen?‹ Da sagt er doch glatt: ›Sie
ist nicht mehr wie früher. Sie hat sich verändert. Sie ist nicht mehr da.‹
Können Sie sich da einen Reim drauf machen?«
    Als Kunstexperte, dessen Spezialität
Fälschungen und Diebstähle waren, konnte sich Bittersohn darauf sehr wohl einen
Reim machen. »Ist das Gemälde denn irgendwie verändert?« fragte er vorsichtig.
    »Natürlich nicht. Ich bin doch selbst
hochgegangen und habe es mir angesehen.«
    »Und Sie denken, Sie kennen diesen
Tizian gut genug, um eine Veränderung feststellen zu können?«
    »Klar, ich habe Joe oft genug vertreten.
Außerdem ist es wirklich ein Bild, das sich ein Mann ganz genau ansieht, wenn
Sie wissen, was ich meine.«
    »Ich verstehe. Warum gehen Sie nicht
und sehen nach, ob die Polizei schon benachrichtigt worden ist? Sagen Sie dem
Wächter am Eingang, er soll keinen herein- oder herauslassen, bis die Polizei
eingetroffen ist. Sie wird sicher viele Fragen stellen wollen.« Bittersohn ließ
seinen Blick über die Menge schweifen, die sich inzwischen durch die Besucher
aus dem Tintoretto-Saal beträchtlich vergrößert hatte. »Da kann man den Herren
allerdings nur viel Glück wünschen.«
    Er richtete sich auf und schaute sich
nach Sarah um, der es mittlerweile gelungen war, sich einen Weg durch die
Menschenmassen an seine Seite zu bahnen. »Meinen Sie, an der Sache ist irgend
etwas faul?« flüsterte sie.
    »Kann ich noch nicht sagen. Scheint mir
ein etwas merkwürdiger Unfall zu sein für einen Wächter, es sei denn, er hat
sich tatsächlich zu weit über die Brüstung gelehnt, um einen Blick auf irgend
etwas hier unten zu werfen, und dabei das Gleichgewicht verloren. Er war ja
nicht mehr der Jüngste, vielleicht litt er auch gelegentlich an
Schwindelanfällen.«
    »Aber es gab doch gar nichts Besonderes
zu sehen. Erinnern Sie sich nicht, wie leer der Garten gerade war? Er ist genau
über uns vom Balkon gefallen, also kann er nichts gesehen haben, was wir nicht
auch gesehen haben.«
    »Stimmt auch wieder. Aber er hat
geschrien, oder irre ich mich da?«
    »Nein, ich glaube, das war der Pfau.
Und der andere Wächter hat im selben Moment auch geschrien. Ich glaube nicht,
daß Witherspoon einen Ton von sich gegeben hat.«
    Der Wächter im Hof bestätigte Sarahs
Beobachtung. Er habe nicht gesehen, wie Joe über die Brüstung gestürzt sei,
doch er habe hochgeschaut, als der Pfau schrie, und gesehen, wie Joes Körper
auf den Boden aufgeschlagen sei. Sehr wahrscheinlich habe er daraufhin
tatsächlich einen Schrei ausgestoßen. Er könne sich nicht daran erinnern, daß
Joe irgendeinen Laut von sich gegeben habe — was ihn allerdings
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