Machtlos
Senator für Inneres oder der Erste Bürgermeister erfuhren von der Tragweite dessen, was geschehen war. Geschweige denn von den Drahtziehern, die dahintersteckten. Die Gruppe derer, die darum wusste, war klein und exklusiv und sollte es auch bleiben.
* * *
Am Tag nach Noors Beerdigung telefonierte Valerie mit Mahir Barakat und verabredete sich mit ihm. Sie hatten auf der Trauerfeier keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen, da Valerie nach der Beisetzung auf dem Friedhof mit ihrer Familie unverzüglich nach Hause gefahren war.
Mahir holte sie ab. Ihn zu sehen ohne Noor machte die Lücke, die der Tod ihrer Freundin in ihrem Leben hinterließ, doppelt greifbar. Er stand vor ihr, auf den ersten Blick selbstbewusst und souverän, wie sie ihn kannte, ein Mann von Welt, dessen Konterfei so perfekt auf die Wirtschaftsseiten der Zeitungen passte. Doch dann sah sie in seine Augen. »Sie fehlt mir so sehr«, bemerkte er. »Und ich hatte keine Möglichkeit, etwas für sie zu tun.« Der Ring an seinem Finger schimmerte im Licht.
»Ich habe Safwan getroffen«, sagte sie.
»Ich habe davon gehört.« Mahir räusperte sich. »Es gibt widersprüchliche Aussagen zu seinem Tod.«
»Burroughs hat ihn erschossen. Hingerichtet. Auf diesem syrischen Tanker.«
»Du warst dabei?«
Valerie nickte.
Sie fuhren zum nahe gelegenen Stadtpark. Mahir stellte den Wagen ab, und sie spazierten über die große, vom Schnee bedeckte Wiese vor dem Planetarium und durch die Rosengärten. Jetzt, mitten im Winter, lockte der Park nur wenige Menschen. Sie begegneten ein paar Joggern, Müttern mit Kinderwagen und einem alten Mann, der am zugefrorenen Teich die Enten mit Brot fütterte. Noor hatte den Park zu jeder Jahreszeit geliebt, besonders aber im Frühling, wenn die meterhohen Rhododendronbüsche unter den alten Bäumen in voller Blüte standen.
»Burroughs steckt dahinter«, sagte Valerie. »Er hat alle auf die falsche Spur gelockt. Ich verstehe nur nicht, warum.«
Mahir schlug den Kragen seines Mantels hoch. »In den vier Wochen im Gefängnis habe ich viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Es kann kein Zufall sein, dass ausgerechnet ich als Drahtzieher hinter dem Attentat von Kopenhagen stehen sollte. Meine Anwälte arbeiten daran.«
Es war dem Einfluss Mahirs syrischer Familie zu verdanken, dass er während seiner Haft nicht an die Amerikaner ausgeliefert worden war und dass die Griechen ihn nach seiner Festnahme in sein Heimatland abgeschoben hatten. Waren die Geschäfte seiner Familie, die wirtschaftlichen Verstrickungen Mahirs, der Grund, warum ausgerechnet Noor und Safwan hatten sterben müssen? Nach allem, was passiert war, hielt Valerie inzwischen auch das für möglich.
»In Rumänien hätte ich Burroughs töten können«, sagte sie.
Mahir blieb stehen und sah sie an. »Es hätte nichts geändert, Valerie. Ein anderer hätte seinen Platz eingenommen.«
Sie lehnten sich an das Geländer des großen Teichs und sahen dem Alten zu, wie er das Brot unter die Vögel verteilte. »Ich habe meine Frau verloren und meinen besten Freund«, sagte Mahir. »Mein Leben fühlt sich so leer und kalt an wie dieser Wintermonat. Aber ich werde nicht aufgeben. Ich werde herausfinden, wer dahintersteckt.«
Mahirs Worte trafen Valerie. Erinnerten sie seltsamerweise ausgerechnet an ihre Empfindungen bei ihrer Festnahme am Flughafen, an jenem 10. Dezember, als sie auf dem Weg nach London war. An den Blick des Mitarbeiters der Fluggesellschaft, der ihren Ausweis in der Hand hielt und zum Telefonhörer griff. An die Menschen, die vor ihr zurückwichen, als die Beamten der Bundespolizei ihren Namen nannten und sie mitnahmen. Es schienen Ereignisse aus einem anderen Leben zu sein.
Dem Leben einer anderen
. Wo war die kalte Wut geblieben, die sie damals verspürt hatte? Wo ihr Wille, zu kämpfen gegen die Willkür, der sie sich ausgesetzt gefühlt hatte? Und wer war diese Frau, die jetzt Mahir gegenüberstand, ängstlich darauf bedacht, mit dem Schnee zu verschmelzen. Nicht aufzufallen. War sie aus der Asche jener anderen Valerie gekrochen, die in Rumänien verbrannt war, war es das, was von ihr übrig geblieben war? Ein Häufchen graue Angst?
Ich werde nicht aufgeben, hatte Mahir gesagt.
Konnte sie das auch von sich behaupten?
* * *
Burroughs atmete gegen die Wut an, die in ihm kochte. Die Chartermaschine ruckelte wie ein Viehtransporter. Das Flugzeug war bis auf den letzten Platz besetzt mit lauten, unangemessen fröhlichen Menschen,
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