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Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)

Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)

Titel: Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
Autoren: Katja Kraus
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rührende Umtriebigkeit, mit der sich das Restaurantpersonal um die Betreuung des einzigen Gastes mühte, machte mich glauben, die Last, die ich gerade in ihren idyllisch katastrophenfreien Ort gebracht hatte, war für alle Anwesenden fühlbar. Nachdem die umliegenden Tische zum Frühstück gedeckt, die Serviettenkränze zum wiederholten Mal in die richtige Stellung geschoben waren, folgte ich der stillen Aufforderung und verabschiedete mich.
    Auf dem Weg zu meinem Zimmer war aus dem ruhigen Ort ein verlassener geworden. Der Gasthof inzwischen verschlossen, andere Gäste hatte ich an diesem Montagabend nicht gesehen. Wie so oft in Situationen emotionaler Aufruhr suchte ich Linderung in Musik. Kurz nachdem ich mich, von Leonard Cohen einfühlsam dramatisch begleitet, in meinen Gedanken verloren hatte, holte mich ein unbarmherziges Hämmern an meiner Zimmerwand in die Welt zurück. Die Vehemenz dieses unerwarteten Aufbegehrens gegen die störende Musik schreck- te mich auf, wie ein beim Schummeln ertapptes Kind. Ich nahm den iPod aus dem Verstärker und kehrte in die Stille zurück. Schlaf war unvorstellbar, bei der Schwere meines Kopfes, also versuchte ich mich stattdessen mit Ritualen zu beruhigen. Ich ging dazu ins Bad, wegen der ungeplanten Übernachtungsflucht nur unzulänglich ausgestattet, und bemerkte das Fehlen der Zahnpasta in meinem Notkosmetikfundus. An anderen Abenden wäre eine solche Entdeckung ärgerlich gewesen, an diesem warf sie mich aus der mühevoll gehaltenen Bahn.
    Das Personal hatte das Haus lange schon sich selbst überlassen, nur die unsichtbaren Leonard-Cohen-Gegner konnten mir aus dieser Lage helfen. Ich klopfte an die Tür des Nachbarzimmers. Laut, über meine Scham hinweg. Doch die Tür blieb verschlossen. Dahinter wohnten Menschen, die ich nicht kannte und die ihrerseits nicht ahnen konnten, dass sich für mich in ihrem Zimmer die stille Aggression, die Unerreichbarkeit des Gegenübers, die unterdrückten Kränkungen der vergangenen Wochen versammelten. Dass die jahrelang von mir geforderte Lautstärke hier jäh unterbrochen wurde. Die Tür blieb verschlossen. Und öffnete damit alle Schleusen.

Der Antrieb
»Wenn ich alles richtig mache, bin ich vorn.«
Sven Hannawald
    Bei der Bestellung der zweiten Portion Pommes frites in einem Hamburger Nobelhotel gelingt es ihm nicht mehr, die Ausschweifung unkommentiert zu lassen. Zu lange schon ist sich Sven Hannawald der aufmerksamen Beobachtung seiner Essgewohnheiten bewusst. Wenn er über das Thema spricht, das ihn in seiner Karriere so konsequent begleitete wie die Vierschanzentournee, schleicht sich ein Schatten in sein strahlendes Jedermanns-Lieblingsgesicht. Dass die professionelle Umsicht in seinem Essverhalten als Magersucht missverstanden wurde, hat ihn immer irritiert und geärgert. Euphorisch wurde er für seinen historischen Triumph gefeiert, als er als erster Springer alle vier Wettbewerbe einer Tournee gewann. Dass manche Menschen semantisch nicht unterscheiden können zwischen dem Gesamtsieger der Vierschanzentournee, den es in jedem Jahr gibt, und seinem einzigartigen Erfolg, kränkt ihn. Schließlich ist es das, »was am Ende stehenbleibt, wofür man all das macht«. Oder eben Selbstverständliches nicht macht. Wie essen. Jetzt, da lange schon nicht mehr jedes Gramm weniger an seinem Körper die Sprungweite erhöht, die am Ende über seinen Seelenfrieden entscheidet, empfindet er Erleichterung. Es ist diese Sehnsucht nach der inneren Zufriedenheit, nach der Erfüllung des eigenen Anspruchs, die ihn zu einem Superstar gemacht hat. Und zum Getriebenen. Für Athleten sind Erfolg und Misserfolg am unmittelbarsten messbar. Gewinnen oder verlieren, Held oder Versager unterscheidet sich in Hundertstelsekunden, Millimetern oder eben Gramm.
    Das Gespräch mit Sven Hannawald ist mir durch meine eigene Zeit als Fußballtorhüterin auf eine besondere Weise vertraut. Es gibt ein intimes Verständnis zwischen Sportlern, insbesondere denjenigen, die für ihre Leistung allein aus sich heraus Verantwortung tragen. Die keine äußeren Umstände als Erklärung finden für den zu kurzen Sprung oder das haltbare Gegentor. Die Offensichtlichkeit jeder Blöße ist Antrieb und Bedrohung zugleich. Die Überzeugung: »Wenn ich alles richtig mache, bin ich vorn« kehrt sich auf ungnädigste Weise um und lässt keine Linderung durch die Erklärung der Bedingungen zu. Es ist der eigene Anspruch, der den Maßstab setzt, der verhängnisvolle Glaube an die
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