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Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde

Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde

Titel: Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Autoren: Lisa Unger
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sich, ihre Sorgen, ihre Arbeit. Erst in der Bewegung kam sie zur Ruhe. Dann wurde sie zu einem Wesen, das nur als körperliche Hülle existierte und nichts mehr fühlte außer das Verlangen zu laufen, immer weiter. Sie bestand nur noch aus Beinen und Lunge. Es schmerzte, aber es tat gut. Das Ritual des Laufens war für Lydia zu einer Ersatzreligion geworden.
    Sie schloss die Existenz eines Gottes oder einer gottesähnlichen Macht nicht aus, aber die Kirche … nein, an die Kirche glaubte sie nicht. Und dennoch spürte sie, als sie an diesem frühen Augustmorgen wie fast jeden Tag an dem kleinen, weiß verputzten Bau vorbeitrabte, einen Stich im Herzen. Die Kirche zum Heiligen Namen ragte stolz und gebieterisch neben der Schotterstraße auf. Wie ein weißer, unbeweglicher Mond erhob sie sich aus Unkraut und Staub. Seit hundert Jahren, massiv und unbeeindruckt, als hätte sie sich aus der Erde heraufgeschoben wie ein Fels. Selbstbewusst reckte die Kirche ihre Mauern der aufgehenden Sonne entgegen, die sie mit orange-, rosa- und lilafarbenem Licht übergoss.
    Als Kind war Lydia jeden Sonntag mit ihrer Mutter in die Messe gegangen. Der feierliche Höhepunkt der Woche, denn ihre Mutter war eine strenggläubige Christin gewesen. Marion Strongs religiöser Eifer hatte die kleine Lydia angesteckt. Sie liebte ihre Mutter über alles und wollte sein wie sie. Sie war glücklich darüber, ihr schönstes Kleid tragen zu dürfen. Stolz lief sie neben ihrer Mutter her. Bestimmt hielt man sie für eine Erwachsene, so laut klackerten ihre Absätze auf dem Gehweg.
    In der Kirche gab ihre Mutter ihr vier Vierteldollarmünzen. Zwei für die beiden Kerzen, die sie im Gedenken an ihre verstorbenen Großeltern anzündete, und zwei für die Kollekte. Sie nahmen in einer Bank in der Mitte Platz, und Lydia wartete ungeduldig darauf, endlich singen zu können. Wenn die Orgel erklang und die Lieder angestimmt wurden, fiel die kleine Lydia aus Leibeskräften mit ein. Sie kannte fast alle Texte auswendig. Ihre Mutter sang in einem glockenhellen, wohlklingenden Sopran und schaute zufrieden auf ihre Tochter herab. Lydia fühlte sich geborgen. Alle waren aus demselben Grund hier. Alle sangen, lachten, reichten einander die Hand: »Friede sei mit dir.«
    Später dann entwickelte Lydia sich zu einem aufmüpfigen Teenager, der sich gegen die Obrigkeit auflehnte und die Kirche »aus Prinzip« ablehnte. Damals war sie gedankenlos gewesen, aber heute fragte Lydia sich manchmal, ob ihre Mutter sie an den Sonntagen vermisst hatte. Marion hatte sie nie gezwungen mitzukommen, und genauso wenig hatte sie ihrer Tochter ein schlechtes Gewissen gemacht. Sie schüttelte nur bekümmert den Kopf. Lydia erinnerte sich an den feinen Riss zwischen ihnen, der sich in den folgenden Jahren zu einer tiefen Kluft vergrößerte.
    Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Lydia versucht, sich zurückzubesinnen. Der schwere Verlust hatte ein Loch in ihr Herz gerissen, durch das der Wind pfiff. Aber der Gottesdienst tröstete und erfüllte sie nicht, sondern kam ihr sinnlos vor. Nicht mehr so schön wie früher. Als ihr klar wurde, dass sie noch nie ohne ihre Mutter in der Kirche gewesen war, dass sie beim Eintreten immer Marions Hand gehalten hatte, wurde sie unendlich traurig. Anstatt ihr über den bitteren Verlust hinwegzuhelfen, erinnerte der Kirchenbesuch sie umso mehr an die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Wenn sie nach ihrem Glauben gefragt wurde, antwortete Lydia: »Ich jogge.«
    Immer wenn sie an der kleinen, weißen Kirche an der Schotterstraße vorbeilief, sah sie das Gesicht ihrer Mutter, hörte das Klacken ihrer Absätze. An diesem Morgen im August, als die Sonne noch nicht aufgegangen und die Wüstenluft noch kühl war, bildete Lydia sich sogar ein, die Stimme ihrer Mutter im Wind zu hören. Sie hielt an, drehte sich um, lief auf der Stelle weiter. Ihr angestrengtes Keuchen war so laut, dass sie erst wieder zu Atem kommen musste, um überhaupt etwas anderes zu hören. Aber da war nur der Sand unter ihren Füßen und das Rauschen in den Bäumen. In der Ferne schrie eine Krähe, aber ihr Krächzen verlor sich im Wind und in den Bergen. Es klang bekümmert und ängstlich.

ZWEI
    I n den Wochen vor dem Todestag ihrer Mutter plagte Lydia eine unerklärliche Ruhelosigkeit. Sie konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr arbeiten. Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre war das Gefühl nicht abgeflaut, sondern schlimmer geworden. Nachts lief sie durch die Gegend, fuhr
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