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Lycana

Lycana

Titel: Lycana
Autoren: Ulrike Schweikert
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musste sich nicht umwenden, um zu sehen, was sich vor der Felsspalte zwischen verkrüppelten Büschen und Heidekraut abspielte. Sie hatte die Wandlung schon oft genug mit eigenen Augen erlebt. Wie sich das Gesicht in die Länge zu ziehen und eine Wolfsschnauze zu bilden begann, wie Fell durch die Haut brach, wie der Körper bebte und sich verformte und vor Schmerzen zitterte, ehe er auf vier Pfoten hinabfiel und ein erstes, triumphierendes Heulen zum Himmel sandte. Ja, der Gestaltwechsel war ein qualvoller, aber auch ein befreiender Prozess, den nur die erfahrenen und mächtigen Werwölfe durch reine Willensanstrengung zu jeder Tages- und Nachtzeit durchführen konnten. Die Jungen und Schwachen waren bei Vollmond gezwungen, ihre tierische Gestalt anzunehmen und auf Jagd zu gehen. Sie waren gefährlich, denn sie waren wild und unbeherrscht in ihrer Gier nach frischem Fleisch. Die Menschen fürchteten sich zu Recht und verschlossen in diesen Nächten Türen und Fenster und hängten Amulette und magische Sprüche über ihre Betten.
    Vom Berg her wehte ein Heulen herab, das vielstimmig erwidert wurde. Tara konnte die Freude in den Stimmen hören. Die beiden Wölfe an ihrer Seite winselten unruhig. Die Druidin erhob sich, stieg von der Platte des Hünengrabes hinunter und setzte ihren Weg ins Tal fort, während sich die Werwölfe in fiebriger Erwartung auf die Jagd machten.
     

DIE DRACAS
    Ein Spätsommertag war zu Ende. Die Nacht hatte sich über Wien gesenkt, und überall an den großen Plätzen und entlang der Prachtstraße, die zur Hofburg führte, wurden die Gaslaternen entzündet. Heute war Donnerstag und die feine Gesellschaft bereitete sich für ihren Auftritt auf dem Hofball oder in einem der Theaterhäuser der Stadt vor. Die Nacht würde lang werden, aber was machte das schon? Man konnte ja in den Tag schlafen, so lange man wollte.
    Auch in einem Stadthaus an der neuen Ringstraße, die sich nun statt des mittelalterlichen Grabens um die Altstadt Wiens zog, erwachte das Leben. Das Haus war mehr Palast als Stadthaus zu nennen und beherbergte eine ganz besondere Familie, die sich dem alten Adel Österreich-Ungarns durchaus ebenbürtig fühlte. Das Oberhaupt der Dracas war Baron Maximilian, den man gewöhnlich in Gesellschaft seiner Schwester Antonia antraf. Er war groß und dunkel, seine Gesichtszüge ebenmäßig wie bei fast allen Mitgliedern der Familie. Er trug einen gepflegten Bart wie der Kaiser in seinen jungen Jahren. Seine Schwester Antonia war ihm ähnlich, doch von solch strahlender Schönheit, dass sich die Männer der Gesellschaft stets zu ihr umdrehten und ihr nachstarrten, als sei sie eine überirdische Erscheinung. Nur ihr oft mürrisch zusammengekniffener Mund störte das Bild perfekter Harmonie. Und der schrille Klang ihrer Worte, dachte Franz Leopold, als ihre Stimme unvermittelt an seine Ohren drang.
    Müßig schlenderte der junge Vampir durch das Palais. Wie üppig verziert die Stuckdecken waren, wie edel die schweren Vorhänge, die auf die Bezüge der Chaiselongue und anderer Sitzmöbel abgestimmt waren. Die vergoldeten Kandelaber schimmerten im Schein des Kerzenlichts. Ja, das Palais der Dracas war prächtig. Nachdenklich ließ Franz Leopold den Blick schweifen. Solche Gedanken waren ihm früher gar nicht gekommen. Doch nun, nachdem er fast ein Jahr in Rom in der Domus Aurea verbracht hatte, sah er das Wiener Palais mit anderen Augen. Sicher musste Neros Palast einst noch prachtvoller gewesen sein, doch das war fast zweitausend Jahre her! Nun fand man unter dem Oppiushügel nur noch feuchte unterirdische Gänge und Kammern. Und doch huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als die Erinnerung an die vergangenen Monate wie ein warmer Strom durch seinen Geist flutete.
    »Was grinst du so einfältig?«, fragte ihn sein Vetter Karl Philipp, der soeben um die Ecke bog. Hinter ihm tauchte seine ältere Cousine Anna Christina auf.
    Franz Leopolds Lächeln war wie weggewischt. »Ich dachte eben nur an diese unsägliche Domus Aurea, und wie glücklich wir uns schätzen können, wieder daheim zu sein.«
    Karl Philipp zog eine Grimasse. »Das kannst du laut sagen!« Er war wie Franz Leopold groß und schlank, mit dunklem Haar, dunkelbraunen Augen und langen Wimpern. Und doch wirkte er neben seinem jüngeren Vetter wie ein verzerrtes Spiegelbild.
    »Franz Leopold ist der schönste Junge auf der Welt. Er ist perfekt, wie kein Maler oder Bildhauer ihn hätte erschaffen können«, pflegte Marie Luise, die
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