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Lucy kriegt's gebacken

Lucy kriegt's gebacken

Titel: Lucy kriegt's gebacken
Autoren: K Higgins
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meinen Willen werde ich langsamer, mein Atem geht schwer. Meine Hände sind zu Eisblöcken gefroren.
    Die Äste der Bäume sehen aus wie verdrehte schwarze Finger, die am Novemberhimmel kratzen. Der Mond ist zwar von Wolken verdeckt, aber er wirft ein mattes, diffuses Licht über den Friedhof, in dem die Grabsteine zu leuchten scheinen.
    Es überrascht mich, wie vertraut mir der Friedhof ist. Da drüben, unter der großen Buche, liegt mein Onkel Pete, der vor sechsundzwanzig Jahren aus seinem Sarg geplumpst ist. Nicht weit davon entfernt, in der Mitte der Reihe, ist Onkel Larry, Roses Mann, begraben. Die Eltern meiner Mutter - ihren Grabstein kann ich von hier aus auch sehen.
    Statt wild zu schlagen, wird mein Herz immer ruhiger, als ich auf Jimmys Grab zusteuere. Obwohl ich nur ein Mal hier war, weiß ich genau, wo es ist. Meine Knie sind zwar weich, aber sie knicken nicht ein. Immer langsamer werden meine Schritte, während ich den Blick über all die Namen wandern lasse, ohne sie wirklich zu sehen. Ich bin nur wegen eines Menschen hier.
    Und da ist es.
    Ich bleibe stehen.
    Giacomo „Jimmy“ Mirabelli, 27 Jahre
    Geliebter Ehemann, Sohn und Bruder
    Und das warst du, Jimmy. Du wurdest geliebt. Von uns allen, aber vielleicht vor allem von Ethan. Ethan, der dir vergeben hat.
    Jetzt zittern meine Beine heftig, aber ich zwinge mich, näher heranzugehen. Näher. Noch näher. Und dann kauere ich mich auf den Boden und lege eine Hand auf Jimmys Grabstein.
    „Hallo, Liebling“, flüstere ich mit heißen Tränen in den Augen. Ein paar Minuten lang lasse ich sie einfach über meine Wangen laufen. Der Wind raschelt in den Zweigen.
    „Ich bin hier, Jimmy“, schluchze ich mit verzerrtem Gesicht. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
    Erinnerungen überfluten mich - Jimmys unglaubliche Augen, sein lautes Lachen, seine starken Arme. Er war meine Welt und meine Zukunft. Er war die Liebe meines Lebens. Meines früheren Lebens.
    „Weißt du was?“, wispere ich. „Ich habe auf den Toast geachtet, Jimmy. Ich habe sein Gesicht gesehen. Und deines auch, Liebling. Ich weiß alles.“
    Sanft fahre ich mit einer Hand über den kalten Granit, zeichne mit einem Finger das J seines Namens nach. Weit in der Ferne schreit eine Eule, Laub wird von einer Windbö erfasst.
    Es ist so schwer, sich von jemandem, den man liebt, zu verabschieden. Auch wenn er längst fort ist. Selbst wenn er es war, der einen verlassen hat. Ich bin nun so lange Jimmys Witwe gewesen. Vielleicht habe ich mich gar nicht so sehr davor gefürchtet, erneut Witwe zu werden. Sondern davor, mehr als eine Witwe zu sein.
    „Ich werde dich immer lieben, Jimmy“, flüstere ich. „Aber jetzt muss ich dich verlassen.“
    Diese Worte schmerzen, als hätte mir jemand ein Brandeisen aufs Herz gedrückt. Ich neige den Kopf und lasse mich von einer Welle des Kummers überfluten - gehe vollkommen darin auf. Nach einer Minute verschwindet der Schmerz in meinem Herzen.
    Ich drücke einen Kuss auf meine Finger und lege sie auf seinen Namen. Ich werde zurückkommen, das weiß ich, aber dann wird es anders sein. Heute Abend findet der Abschied statt, der so lange auf sich warten ließ. Ich flüstere noch etwas, das Letzte, was ich meinem toten Mann sagen will.
    „Danke, Jimmy. Ich habe jede Minute meines Lebens mit dir geliebt.“
    Dann stehe ich auf, trockne mir die Augen und atme die kalte, klare, salzige Luft ein.
    Jetzt ist es an der Zeit, ein neues Leben zu beginnen. Mit Ethan, dem Mann, der mich in all den Jahren mit absoluter Selbstlosigkeit geliebt hat. Der mich so sehr geliebt hat, dass er sogar mit ansah, wie ein anderer mich geheiratet hat. Der mir in meinen dunkelsten Momenten zur Seite stand, der schon so lange auf mich wartet. Der Mann, den ich seit Jahren liebe, auch wenn ich es mir nie eingestanden habe.
    Noch einen Blick werfe ich auf Jimmys Grab, und mir stockt der Atem.
    Am Fuß des Grabsteins glitzert etwas in dem fahlen Mondschein auf.
    Ein Dime.
    Mit einem zittrigen Lachen hebe ich ihn auf und küsse ihn. Trotz der kalten Novembernacht ist der Dime warm, und irgendwie weiß ich, dass ich keinen weiteren mehr finden werde. „Danke, Jimmy“, flüstere ich. Der Kieselstein in meinem Hals ist verschwunden. Endlich ist er verschwunden.
    Dann stopfe ich den Dime in meine Tasche und renne wieder los. Meine Beine fühlen sich jetzt stark an, die Luft ist klar und kalt. Fünf Reihen, sechs, neun. Da ist das Grab meines Vaters, aber heute Abend werde ich
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