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Luc - Fesseln der Vergangenheit

Luc - Fesseln der Vergangenheit

Titel: Luc - Fesseln der Vergangenheit
Autoren: Stefanie Ross
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Bergen, die wie die Zacken eines Drachen als schwarze Schatten in den Nachthimmel ragten. Sterne funkelten wie Diamantsplitter über den Gipfeln und die kühle Luft bot eine willkommene Abwechslung zur trockenen Hitze des Tages. Kein Geräusch durchbrach die Stille, nichts lenkte sie von ihren Problemen ab, die jetzt wieder mit Brachialgewalt über sie hereinbrachen. Statt das Haus zu betreten und Kalil abzulösen, lehnte sie sich an die Mauer und starrte in den Nachthimmel.
    Stundenlang hatte sie die Gesellschaft von Hamid und seiner Familie genossen und jeden Gedanken an ihren unbekannten Patienten verdrängt. Nachdem sich Alima zurückgezogen hatte, war ihr Gespräch mit Hamid ernster, die Diskussionen hitziger geworden, aber dennoch hatte kein Missklang ihre Freundschaft gestört. Endlich war sie bereit, sich einzugestehen, was sie eigentlich schon lange wusste: Mit Hamid und Kalil verband sie weit mehr als reine Freundschaft. In den Stunden, die sie damals gemeinsam um das Leben des Jungen gebangt hatten, waren zunächst Verständnis für den anderen und dann tiefer gehende Gefühle entstanden. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen, denn in der Zeit, in der sie sich notgedrungen in Kunduz aufhielt, um neue Medikamente und Ausrüstungsgegenstände zu besorgen, ließ sie in den langen, einsamen Nachtstunden oft genug nur der Gedanke an Hamid und seine Familie durchhalten, und trotzdem hatte sie sich bis heute gegen die Wahrheit gewehrt. Erst als Hamid ihretwegen Warzai ausgewichen war und sein Dorf verlassen hatte, war sie bereit gewesen, sich ihren Gefühlen zu stellen.
    Ohne das Gewicht der Waffe am Oberschenkel fühlte sie sich merkwürdig befreit, aber dafür lag ihr Versprechen, dem Unbekannten unter keinen Umständen zur Flucht zu verhelfen wie Blei auf ihren Schultern.
    Hamid hatte zunächst geschwiegen. »Ich habe das nicht von dir verlangt, sondern wollte nur wissen, wie du dir die nächsten Tage mit deinem Patienten vorstellst.«
    Dann hatte Jasmin ihn falsch verstanden, aber jetzt war es zu spät. Sie zuckte lediglich mit den Schultern und er ging nicht weiter auf das Thema ein, während sie sich fragte, wie sie mit dem Versprechen eigentlich leben sollte. Sie war eindeutig zu voreilig gewesen und es war falsch gewesen, zu glauben, dass sie so allen half. Erst war es ihr darum gegangen, dass Hamid sie weiter in die Nähe des Unbekannten ließ, und dann natürlich auch darum, dass sie keinesfalls zulassen durfte, dass sich Warzai an Hamid, seiner Familie und den anderen Dorfbewohnern grausam rächte, wenn sein Gefangener entkam. Aber den Unbekannten einfach so seinem Schicksal zu überlassen, kam eigentlich auch nicht in Frage. Jetzt hatte sie jedoch keine Wahl mehr, das Wort eines Mannes oder einer Frau war in dieser Region heilig und auch ihre Eltern hatten ihr von Kindheit an beigebracht, dass Versprechen gehalten werden mussten.
    Der Gedanke an ihre Eltern trieb Jasmin die Tränen in die Augen. Blinzelnd suchte sie nach dem hellsten Stern und erinnerte sich an die Geschichten ihrer Mutter. Damals, als ihr Großvater gestorben war, hatte ihre Mutter sie mit hinaus in den Garten genommen und auf den Sternenhimmel gedeutet. »Niemand ist für immer weg, solange es Menschen gibt, die an ihn denken. Dein Opa ist jetzt nicht mehr bei uns und das tut weh. Weine ruhig, mein Kind, denn du brauchst dich nicht zu schämen, dass du ihn vermisst. Aber denke immer daran, dass er jetzt irgendwo da oben ist und auf dich herabguckt. Und immer wenn du an ihn denkst, ist er bei dir.«
    Als ihre Eltern starben, war niemand da gewesen, der sie getröstet hatte, und die Sinnlosigkeit ihres Todes hatte sie auf einen Weg geführt, den sie niemals hätte gehen dürfen. Statt für Gerechtigkeit zu sorgen, hatte sie zahlreichen Unschuldigen den Tod gebracht. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Hamid und seine Leute brauchten sie. Der Rest ging sie nichts an und sie war nicht im Geringsten für den Unbekannten verantwortlich. Die körperliche Anziehung war völlig natürlich, schließlich war er ein attraktiver Mann, und sie hatte seit Jahren keinen Sex mehr gehabt, allerdings bisher auch nicht vermisst.
    Tief durchatmend stieß sie sich von der Mauer ab und öffnete die Tür. Der Anblick, der sich ihr bot, brachte sie fast zum Lachen. Lediglich das Display des Notebooks erhellte das Innere und sie sah Kalil, der davorsaß und rasend schnell auf der Tastatur tippte. Da er mit dem Rücken zu ihr saß, erspähte sie das
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