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Love

Love

Titel: Love
Autoren: Stephen King
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unheimlich. Ich will mich nicht vor ihm fürchten und tu’s eigentlich auch nicht, aber ich muss immer an das Ding in ihm denken und frage mich, ob es vielleicht noch in ihm steckt. Und wenn hier drüben Dinge, die bei Tageslicht nett sind, nach Einbruch der Dunkelheit zu Gift werden, kann vielleicht ein schlafendes Ding, selbst eines, das tief unter der Erde in totem, verwesendem Fleisch überwin tert, zu neuem Leben erwachen. Was, wenn es plötzlich Pauls Arme aus dem Erdboden strecken würde? Wenn es mich von seinen schmutzigen Händen grapschen ließe? Wenn sein grinsendes Gesicht vor meinem auf steigen würde, während ihm Erdklumpen wie Tränen aus den Augenwin keln tropfen?
    Ich will nicht weinen, mit zehn flennt man nicht mehr (vor allem nicht, wenn man so viel mitgemacht hat wie ich), aber ich fange trotzdem an zu heulen, dagegen bin ich wehrlos. Dann sehe ich einen Sweetheart-Baum, dessen gewaltig ausladende Äste scheinbar eine niedrige Wolke bilden, ein kleines Stück vor den anderen stehen.
    Und für mich, Lisey, sah dieser Baum … freundlich aus. Damals wuss te ich nicht, weshalb, aber ich glaube, dass ich es jetzt, nach all diesen Jahren, weiß. Beim Niederschreiben ist mir vieles klarer geworden. Die Nachtlichter, diese in Bodennähe treibenden unheimlichen Leuchtbal lone, haben sich nicht unter ihn gewagt. Und als ich näher herangekom men bin, habe ich gemerkt, dass zumindest dieser eine Baum nachts so süß – oder fast so süß – roch wie tagsüber. Das ist der Baum, unter dem du jetzt sitzt, kleine Lisey, wenn du diese letzte Geschichte liest. Und ich bin sehr müde. Ich glaube nicht, dass ich dem Rest die Gerechtigkeit widerfahren lassen kann, die er verdient, obwohl ich weiß, dass ich es ver suchen muss. Schließlich ist dies meine letzte Gelegenheit, mit dir zu reden.
    Sagen wir einfach, dass es einen kleinen Jungen gibt, der im Schutz dieses Baumes sitzt, bis – nun, wie lange wohl? Nicht jene ganze Nacht lang, aber bis der Mond (der hier immer voll zu sein scheint, ist dir das aufgefallen?) untergegangen ist und er selbst mal mehr, mal weniger dösend ein halbes Dutzend seltsamer und manchmal wunderschöner Träume hatte, von denen mindestens einer später die Grundlage eines Romans bilden wird. Lange genug, um diesen wundervollen Unterschlupf den Geschichten-Baum zu nennen.
    Und lange genug, damit er weiß, dass etwas Schreckliches – etwas, das weit grausiger ist als das blasse Böse, von dem sein Vater besessen ist – ihn flüchtig betrachtet – und (vielleicht) zur späteren Beachtung vorgemerkt hat, bevor es sich mit seinem obszönen und unerforschlichen Intellekt wieder abwandte. Das war das erste Mal, dass ich den Burschen gespürt habe, der hinter so großen Teilen meines Lebens gelauert hat, Lisey, dieses Ding, das die Dunkelheit zu deinem Licht war, das ebenfalls denkt – wie ich es immer von dir gewusst habe –, dass alles beim Alten ist. Das ist eine wundervolle, befreiende Einsicht, die aber auch ihre dunkle Seite hat. Ich frage mich, ob du das weißt? Ich frage mich, ob du es jemals wissen wirst?
    17 »Ich weiß es«, sagte Lisey. »Ich weiß es wirklich. Gott sei mir gnädig, ich weiß es.«
    Sie sah wieder die Blätter durch. Noch sechs Seiten. Nur sechs, das war gut. Die Nachmittage in Boo'ya-Mond waren lang, aber Lisey hatte das Gefühl, dass dieser allmählich zu Ende ging. Es wurde wirklich Zeit, zurückzukehren. In ihr Haus. Zu ihren Schwestern. In ihr Leben .
    Allmählich hatte sie eine Ahnung davon, wie sie das an stellen musste.
    18 Dann irgendwann höre ich, wie die Lacher dem Rand des Mär chenwalds näher rücken, und ich habe das Gefühl, dass ihre Belustigung einen spöttischen, vielleicht sogar einen verschlagenen Unterton angenommen hat. Ich spähe um den Stamm des schützenden Baums herum und bilde mir ein, aus der dunklen Masse der Bäume am Waldrand noch dunklere Formen schleichen zu sehen. Vielleicht liegt das nur an meiner überaktiven Fantasie, aber das glaube ich nicht. Ich denke, dass meine Fantasie, so fiebrig sie auch sein mag, durch die vielen Schocks eines langen Tages und einer noch längeren Nacht so erschöpft ist, dass ich mich damit begnügen muss, genau das zu sehen, was tatsächlich da ist. Wie als Bestätigung dafür kommt ein sabberndes Glucksen aus dem hohen Gras keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich kauere . Auch diesmal denke ich nicht darüber nach, was ich tue; ich schließe nur die Augen und fühle sofort
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