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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German)
Autoren: Vladimir Nabokov
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Straßenseite zu fahren. In gewisser Weise war dieses wundervolle Jucken etwas sehr Geistiges. Sacht, träumerisch, nie über dreißig Kilometer die Stunde, fuhr ich auf dieser wunderlichen Spiegelseite dahin. Der Verkehr war gering. Hin und wieder überholten mich Autos auf der Seite, die ich ihnen überlassen hatte, und hupten mich brutal an. Entgegenkommende Autos schlingerten, wichen aus und kreischten vor Angst. Bald stellte ich fest, daß ich mich belebteren Regionen näherte. Eine rote Ampel zu durchfahren, war wie ein Schluck verbotenen Burgunders in Kindertagen. Mittlerweile kam es zu Komplikationen. Ich wurde verfolgt und eskortiert. Dann sah ich vor mir zwei Streifenwagen, die sich querstellten und mir den Weg versperrten. Mit graziösem Schwung bog ich von der Straße ab und fuhr nach zwei oder drei großen Hopsern zwischen überraschten Kühen einen grasigen Hang hinauf und kam dort zu einem leicht schaukelnden Stillstand. Eine Art beschaulicher Hegelscher Synthese, die zwei tote Frauen verband.
    Bald würde man mich aus dem Wagen zerren (mach's gut, Melmoth, vielen Dank, alter Junge), und ich freute mich geradezu darauf, mich vielen Händen zu überlassen, ohne selber etwas tun zu müssen, während sie mich fortschafften und forttrugen, entspannt, bequem, faul ergeben wie ein Patient und mit einem gewissen gruseligen Vergnügen an meiner Schlaffheit und an dem absolut sicheren Halt, den mir die Polizisten und Sanitäter gaben. Und während ich darauf wartete, daß sie den hohen Hang zu mir empofgerannt kamen, beschwor ich mir eine letzte so wunderbare wie hoffnungslose Fata Morgana herauf. Bald nach ihrem Verschwinden hatte mich eines Tages ein scheußlicher Anfall von Übelkeit gezwungen, auf dem Geist einer alten Bergstraße zu halten, die eine nagelneue Autostraße bald begleitete, bald querte und mit ihren Populationen wilder Astern in der gelösten Wärme eines blaßblauen Spätsommernachmittags badete. Nachdem ich mir die Seele aus dem Leib gespien hatte, ruhte ich mich eine Weile auf einem Felsblock aus und ging dann ein paar Schritte zu einer niedrigen Steinbrüstung an der Talseite der Autostraße, weil ich meinte, die milde Luft würde mir guttun. Kleine Grashüpfer sprangen aus dem dürren Unkraut am Straßenrand. Eine leichte Wolke öffnete die Arme und schwebte auf eine etwas solidere zu, die einem anderen, schwerfälligeren, himmelblau vollgesogenen System angehörte. Als ich mich dem freundlichen Abgrund näherte, wurde ich einer melodischen Einheit von Geräuschen gewahr, die wie Dampf von einer kleinen Bergwerkstadt in der Talmulde zu meinen Füßen aufstiegen. Zwischen den Quadraten roter und grauer Dächer war die Geometrie der Straßen auszumachen und grüne Baumpuschel und ein geschlängelter Fluß und das reiche, erzgleiche Glitzern der städtischen Mülldeponie und jenseits der Stadt Straßen, die den verrückten Quilt dunkler und blasser Felder kreuz und quer zerteilten, und hinter all dem hohe, bewaldete Berge. Aber heller noch als diese still feiernden Farben - denn es gibt Farben und Farbschattierungen, die ihr glückliches Aufeinandertreffen zu feiern scheinen -, heller noch und träumerischer für das Ohr, als die Farben es für das Auge waren, war das duftige Vibrieren der gebündelten Geräusche, die ununterbrochen zu der Granitlippe emporstiegen, wo ich stand und meinen besudelten Mund wischte. Und bald begriff ich, daß alle diese Geräusche von einer Art waren, daß außer ihnen keine anderen Geräusche aus den Straßen der transparenten Stadt heraufwehten, wo die Frauen zu Haus waren und die Männer fort. Leser! Was ich hörte, war einzig die Melodie spielender Kinder, nichts als das, und so klar war die Luft, daß das Gehör in diesem dünnen Dunst sich mischender Stimmen - majestätisch und präzis, fern und zauberhaft nah, freimütig und himmlisch rätselhaft - dann und wann, als würde er freigegeben, einen fast artikulierten Ausbruch hellen Gelächters unterscheiden konnte oder den Schlag einer Baseballkeule oder das Geklapper eines Spielzeugwagens, aber alles war viel zu weit entfernt, als daß das Auge in den leicht eingravierten Straßen irgendeine Lebensregung hätte erkennen können. Ich stand in meiner luftigen Höhe und konnte mich an diesem musikalischen Vibrieren nicht satthören, an diesen einzelnen Rufen, die auf dem Hintergrund verhaltenen Gemurmels aufblitzten, und dann wußte ich, daß es nicht das Fehlen Lolitas an meiner Seite war, was so
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