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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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fragte ich. »Nächstes Jahr.« – »Im Frühjahr?« – »Weiß noch nicht.« – »Ist Deutschland weit weg?« – »Ja.« Es war keine Unterhaltung, Abdullahs Stimme klang gelangweilt. Dabei hätte ich gerne von ihm gehört, dass er mich schön findet und Sehnsucht nach mir hat. Mädchenträume eben.
    Es muss vor einer Ampel gewesen sein. Unvermittelt, wie wenn man von einer Mücke gestochen wird, die man vorher weder gehört noch gesehen hat, beugte er sich plötzlich zu mir herüber, drückte seine Lippen auf meine Wange und griff mit seiner Hand zwischen meine Schenkel. So überraschend, dass ich aufschrie vor Schreck. So etwas hatte ich noch nie erlebt, ich wusste kaum, was ein Kuss ist. Nie war ich von meinen Eltern in den Arm genommen oder geküsst worden, ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern, auch von der Großmutter nicht.
    »Nein!«, schrie ich. Ich kannte diesen Mann nicht, nur seine bis dahin gleichgültige Tour. Ich lehnte mich so weit wie möglich zum Autofenster hinaus, die feuchte Hitze schlug mir wie Moder entgegen. Ich wollte weg, er machte mir Angst. Die Ampel schaltete auf Grün, und Abdullah fuhr los wie ein Irrer, bremste jedoch gleich wieder mitten auf der Straße mit quietschenden Reifen ab. Er wollte es noch einmal wissen, riss mich mit Gewalt vom Fenster weg und küsste mich – was heißt küsste –, er drückte mir zum zweiten Mal seine Lippen mitsamt Zähnen ins Gesicht. »Lass mich«, rief ich voller Panik. Wenn der Vater das erfahren würde, würde er mir nicht nur Vorwürfe machen, sondern mich windelweich hauen. Es wäre die Hölle, denn ich bin schuld, obwohl ich doch nichts dafür kann. »Was stellst du dich so an?«, brüllte Abdullah. »Kleines Biest.« Meine Schwester hinten im Auto machte keinen Mucks, aber ich schrie laut, so laut, dass es die ganze Straße hörte: »Hol dich der Teufel.«
    Da startete Abdullah wieder durch, den Gang hatte er sowieso nicht herausgenommen, trat mit voller Wucht aufs Gas: »Was fällt dir ein, dich deinem Mann zu verweigern?«, tobte er. »Du wagst es, mich zu beschimpfen und mich vor allen Leuten lächerlich zu machen? Warte nur, bis wir erst richtig verheiratet sind, mach dich auf alles gefasst.« Dann holte er zum Schlag aus, ich nahm meinen Kopf zwischen beide Arme und duckte mich. Doch Abdullah erwischte nicht mich, sondern drosch mit seiner flachen Hand auf das Lenkrad ein. Vier-, fünfmal: »Das werde ich nicht dulden«, schrie er. »Wenn wir erst verheiratet sind, wird dir dein Rumgezicke schon vergehen.« Und plötzlich sehr leise: »Ich werde dich kleinkriegen, verlass dich drauf.« Ich rutschte vom Sitz und kauerte mich zusammen, heulend, ein Nichts, da, um geschlagen, getreten, gezogen, geschoben und gewürgt zu werden. Eine halbe Stunde später lieferte Abdullah meine Schwester und mich wieder beim Vater ab. Mein Bräutigam sagte keinen Ton, ich auch nicht. Sein Tobsuchtsanfall war ein Vorgeschmack auf das, was mich erwarten würde. Am nächsten Tag fuhr er zurück nach Deutschland. Ich versuchte, ihn zu vergessen.

2.
    »Pack deine Sachen«
    Plötzlich hörte ich seine raue Stimme von der Terrasse her. Abdullah war aus der Stadt zurückgekehrt und unterhielt sich lautstark mit der Frau seines Bruders. »Die Akte von der Botschaft ist da.« – »Wollt ihr nun endlich fahren?« – »Ja, sofort, heute noch, ich bin schon viel zu spät.« – »Wie lange seid ihr unterwegs?« – »Wir fahren nach Tunis, holen das Visum ab, dann weiter mit der Fähre. Anderthalb Tage und mindestens einen Tag von Genua nach Hamburg.«
    Ich hörte meine Neffen und Nichten, wie sie um den Onkel herumschwirrten und riefen: »Wohin? Wohin gehst du mit Esma?« – »Nach Deutschland.« – »Was ist das?« – »Ein Land, ganz weit weg.« Es war Anfang September und kochend heiß, die Luft zum Schneiden dick. Ich stand in der dunklen Küche des Flachbaus meiner Schwagerfamilie, zu der wir nach der Hochzeit für ein paar Wochen gezogen waren, und rührte die Gemüsesoße für das Couscous zum Mittagessen. Warum kam mein Mann nicht zu mir und erzählte mir, was er vorhatte? Es betraf mich doch ganz unmittelbar, aber er tat so, als sei ich ein lästiges Anhängsel.
    Ihm nachlaufen? Nein, ich hatte keine Lust rauszugehen. Mir war heiß, mit meinem Kopftuch hatte ich die Haare nach hinten gebunden. Jetzt war es so weit. Den Gedanken, dass ich eines Tages aus Tunesien weggehen müsste, hatte ich ein ganzes Jahr lang vor mir hergeschoben. Fast
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