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Lob der Faulheit

Lob der Faulheit

Titel: Lob der Faulheit
Autoren: Thomas Hohensee
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Spracherwerb dienen. Wie lernt ein Kind seine Muttersprache? Indem es die Lauscher aufstellt, nachplappert und mit der Zeit konkrete ebenso wie abstrakte Dinge mit bestimmten Lautfolgen
verbindet. Kein Wörterbuch, keine Grammatik, keine Systematik, keine Sprachfibel, keine Hausaufgaben und keine Klassenarbeiten: nichts von alledem, was im Sprachunterricht unserer Schulen für unverzichtbar gehalten wird.
     
    Ich erinnere mich, dass meine Lehrerin in der allerersten Französischstunde ganz großes Theater bot. Sie ging im Klassenraum herum, sprach wild gestikulierend in einer fremden Sprache vor sich her, machte die Tür auf, schloss sie wieder, ging zum Fenster, machte es auf und wieder zu und irgendwie dämmerte uns, dass die französischen Laute wohl irgendetwas mit ihrem seltsamen Treiben zu tun hatte. Danach musste jeder Schüler dasselbe Theater aufführen, also hörten wir das Ganze über dreißig Mal. Es sind die einzigen französischen Sätze, die sich mir tief eingeprägt haben, obwohl ich danach noch sieben Jahre Französisch-Unterricht hatte und heute nicht in der Lage bin, fließend französisch zu sprechen.
     
    Wäre meine Französischlehrerin nie von ihrem didaktischen Konzept der ersten Stunde abgewichen, hätten wir alle Französisch wie unsere Muttersprache gelernt. Stattdessen begann danach das Sprachenlernen nach Lehrplan. Was für eine Zeitverschwendung! Wie viel sinnlose Arbeit und Mühe!
     
    Aus dem Lernen eine Pflicht zu machen, bedeutet, Wollen in Müssen zu verwandeln. So werden aus neugierigen, aufgeweckten Kindern gelangweilte SchülerInnen, die sich innerlich gegen den Zwang des Lernensollens auflehnen. In den sozialistischen Staaten reagierten die BürgerInnen ähnlich. Sie stumpften ab. Ihre Eigeninitiative erlahmte. Ihre Gesichter bekamen den Ausdruck von Freudlosigkeit. Die Bereitschaft zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben beschränkte sich auf das notwendige
Mindestmaß. Übertragen Sie das auf unser Schulsystem, und Sie verstehen, was dort passiert.
     
    Für die LehrerInnen ist die Schule ebenfalls kein Vergnügen. Sie strengen sich in der Mehrzahl so sehr an. Doch werden sie zwischen Schulverwaltung, Eltern und SchülerInnen aufgerieben. Deshalb erreichen die meisten nicht das normale Pensionsalter. Und dann müssen sie sich auch noch anhören, sie seien in Wirklichkeit faul. Das setzt der Absurdität die Krone auf.
     
    Ich habe nichts gegen die am Schulbetrieb Beteiligten, aber eine Menge gegen das Unterrichtssystem. Während meiner Ausbildung zum Juristen absolvierte ich ein mehrwöchiges Praktikum in der Schulverwaltung. Ich stellte fest, dass – anders als ich es vielleicht erwartet hatte – alle dort unglaublich sympathisch waren: die SchulrätInnen, die BildungspolitikerInnen, die SchulleiterInnen. Da ich die Schule erst wenige Jahre zuvor verlassen hatte, wusste ich aber, dass das Ergebnis ihres Tuns unbefriedigend, ja deprimierend war. Ihnen war das übrigens genauso klar. Mit meiner Kritik, die ich Ihnen gegenüber äußerte, lief ich offene Türen ein. Daraus ließ sich nur ein Schluss ziehen: Die Schule funktioniert als System nicht, egal, was der Einzelne tut.
     
    Solange das Lernen nicht selbstbestimmt, mindestens mitbestimmt, erfolgt, ist keine positive Veränderung zu erwarten. In einem Schulsystem, das Disziplin, harte Arbeit, Fleiß und Willensstärke verlangt, ringen die SchülerInnen verständlicherweise um ihre Autonomie. Sie verweigern sich lieber dem Zwang, als dass sie sich unterordnen. Die SchülerInnen haben dabei meine volle Sympathie und die LehrerInnen tun mir leid.

     
    Seit ich das staatliche Bildungssystem verlassen habe, macht mir das Lernen wieder Spaß. Ich kenne viele, denen es ähnlich geht. Leider kenne ich noch mehr, die als Erwachsene mit dem Thema abgeschlossen haben und nicht mehr bereit sind, Neues zu lernen, weil Lernen für sie mit zu unangenehmen Erinnerungen verbunden ist. Nur wenn sie an einer beruflichen Fortbildung teilnehmen müssen (!), geben sie dem Druck nach und bringen es hinter sich.
     
    Die Schulen sind zweifellos in der Krise. Die Unzufriedenheit ist immens. Es macht keinen Sinn, so weiterzumachen wie bisher. Wenn der Unterricht wirklich auf das Leben vorbereiten soll, sind radikale Reformen nötig. Aus den Lernfabriken könnten Orte werden, wo Kinder gerne freiwillig hingehen, weil sie merken, dass sie dort Dinge lernen, die ihnen das Leben erleichtern und nicht erschweren.

     
    Es wäre besser, Schulen
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