Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liz Balfour

Liz Balfour

Titel: Liz Balfour
Autoren: Ich schreib dir sieben Jahre
Vom Netzwerk:
gesprochen werden. Die beiden sagten, sie würden nicht einmal merken, dass noch ein drittes Kind etwas Neues zum Anziehen wollte …
    Großartig, wie sich meine Eltern, oder genauer gesagt Deirdre, so früh schon um meine Zukunft sorgten, könnte man denken. Vorbildlich, wie sie gleich zu Beginn die Weichen stellten. Aber so konnte ich es damals natürlich nicht sehen.
    Mich hatte nämlich niemand gefragt.
    Sie stellten mich vor vollendete Tatsachen, rissen mich
wie Unkraut mit den Wurzeln aus dem Mutterboden und warfen mich über das Meer in ein anderes Land, wo ich neue Wurzeln schlagen musste. Sie hatten nicht bedacht, dass es bei einer so jungen Pflanze nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder sie ging sofort ein, oder sie schlug auf der Stelle neue Wurzeln. Mir gelang es, Fuß zu fassen und eine neue Heimat zu finden. Es ging so schnell, dass ich nach kurzer Zeit schon nichts mehr mit meinen Eltern teilte. Ich kam in den Schulferien immer seltener nach Irland, ich wechselte nicht mehr von meinem lupenreinen englischen Akzent in den südirischen Dialekt meiner Eltern und früheren Freundinnen, ich genoss nicht mehr atemlos den Blick aus dem Fenster von Emerald Cottage über die Ringabella Bay.
    Deirdre hätte nur mit mir reden müssen, mir Erklärungen liefern, dann hätte ich nicht angefangen, meine eigene Mutter allmählich abzulehnen. Doch sie schwieg. So war ich davon überzeugt, dass sie mich einfach nicht mehr wollte. Ich war alt genug, um zu wissen, dass mein Vater Alkoholiker war. Er hatte schon lange keine Arbeit mehr. Früher einmal hatte er die Post ausgetragen, aber daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Meine Mutter arbeitete manchmal im Pub, manchmal in dem kleinen Laden in Myrtleville, der Postamt und Lebensmittelladen zugleich war. Sie war gelernte Krankenschwester. Warum sie nicht in einem Krankenhaus oder einer Praxis arbeitete, wusste ich nicht. Wenn ich sie danach fragte, sagte sie nur: »Das ist nicht so einfach, mein Kind. In Irland haben nun mal nicht alle Leute Arbeit.« Einmal sagte sie: »Ich muss für deinen Vater da sein, deshalb kann ich mich nicht um andere Leute kümmern, die
krank sind.« Und so dachte ich, das gelte auch für mich: Sie könnte sich auch nicht um mich kümmern.
    Doch ich war offenbar nicht nur Deirdre im Weg, sondern auch Colin. Als sie mich wegschickten, war ich überzeugt davon, dass mein Vater nur wegen mir so viel trank. Es war einfache kindliche Logik: Früher hatte er nicht getrunken, sondern gearbeitet. Seit es mich gab, war es umgekehrt. Ich musste also schuld sein. Und Mutter, die sich um ihn kümmerte, weil sie seine Krankenschwester war, sorgte dafür, dass es ihm wieder gut ging, indem sie mich aus seinem und ihrem Leben entfernte. Ich störte nur.
    In London störte ich niemanden. Ganz im Gegenteil. Meine Verwandten nahmen mich herzlich auf. Meine Cousine hieß Sophie und mein Cousin William, und sie waren so typisch englisch wie ihre Namen, sodass ich anfangs oft kichern musste. Meine Freundinnen in Irland hießen Róisín, Caoimhe und Aisling, ihre Brüder Sean, Cathal und Liam, worüber Sophie und William kicherten. Mein Onkel Matthew revolutionierte mein gesamtes Männerbild: Er trug für Siobhan Einkaufstaschen, hielt ihr Türen auf und half ihr in den Mantel. Er ließ sie ausreden, wenn sie am Reden war, und nicht selten fragte er sie um Rat, den er dann auch annahm. Wenn er trank, dann nur etwas Wein zum Essen oder ganz selten mal einen Single Malt, wenn er Besuch hatte. Ich lernte schnell, dass Matthew allen Menschen gegenüber nett und zuvorkommend war. Überhaupt erschien mir meine ganze neue Verwandtschaft wie von einem anderen Stern, und ich nahm alles, was ich erlebte, in mir auf. Ich lebte mit einem Mal nicht mehr in einem winzigen Cottage, in
dem man jedes Geräusch hören konnte, das im Zimmer nebenan gemacht wurde, sondern in einem riesigen Haus im nordwestlichen Londoner Stadtteil Harrow on the Hill. Die berühmte Harrow School war nicht weit entfernt. Auch wenn die Häuser sehr viel größer waren als in Myrtleville, auch wenn die Straßen so viel voller und lauter waren, hatte ich bald schon keine Angst mehr in der Großstadt. Hier gab es Bäume und Parks und natürlich einen Himmel, obwohl ich mich genau daran erinnerte, wie mein Vater einmal behauptet hatte, die Londoner könnten vor lauter Beton und Abgasen keinen Himmel mehr sehen. Ja, ich lebte mich rasch ein, aber die tiefe Traurigkeit über die verlorene Heimat trug ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher