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Linda Lael Miller

Linda Lael Miller

Titel: Linda Lael Miller
Autoren: Denn dein Herz kennt den Weg
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sichtbar waren, wurden mit warmem Wasser
ausgewaschen, bevor die Schwestern ihn in eine jener grobgewebten Decken
hüllten, die alles waren, worüber die Abtei verfügte.
    Melissande
zog sich einen Schemel ans Kopfende des Betts, setzte sich darauf und legte
eine Hand auf Christians Schulter, um ihm etwas von ihrer Kraft zu
übermitteln. Tränen strömten über ihre Wangen, und sie zitterte vor Kälte, aber
nichts hätte sie dazu bewegen können, ihn zu verlassen.
    Erinnerungen
an vergangene Zeiten bedrängten sie und erfüllten ihr wundes Herz. Sie und
Christian hatten sich verliebt, als sie noch halbe Kinder gewesen waren, und
sich geschworen, immer füreinander dazusein ... Doch nur wenige Wochen bevor
sie rechtmäßig getraut worden wären, war Christian auf See vermißt worden, als
er auf dem Weg nach Irland gewesen war, um für seinen älteren Bruder James,
Lord Wellingsley, eine Botschaft zu überbringen.
    Oder
zumindest hatte Melissande das geglaubt.
    »Du kennst
diesen jungen Mann«, sagte Mutter Erylis leise, nachdem sie die anderen Nonnen
fortgeschickt hatte. Sie und Melissande wachten jetzt allein bei Christian, während
sie auf Bruder Nodger warteten, der schon alt war und eine beträchtliche
Entfernung zur Abtei zurückzulegen hatte.
    Melissande
nickte. Es wäre sinnlos gewesen, ihr Schweigegelübde zu brechen, obwohl ihr
Herz so voll war, daß sie gern gesprochen hätte. Aber ihre Gefühle in Worte zu
fassen, hätte Christian in diesem Augenblick auch nicht helfen können.
    O ja,
Mutter, antwortete sie deshalb im stillen. Ich kannte ihn einst. Sein
Herz gehörte mir, und ich liebte ihn. Doch selbst wenn er überleben sollte, wird
er für immer für mich verloren sein, denn ich kann sehen, daß ihm Verletzungen
zugefügt wurden, die niemals heilen werden und deren Schmerz ich vielleicht
nicht einmal lindern kann.
    Sich
bekreuzigend, sprach sie ein stummes Gebet, und ihre Lippen bewegten sich im
tröstlichen Rhythmus der vertrauten Worte.
    Mutter
Erylis seufzte schwer. Es war für niemanden ein Geheimnis, daß sie Zweifel an
Melissandes Berufung hegte, und aus diesem Grund war es der jungen Frau noch
nicht gestattet worden, offiziell in den Orden einzutreten. Melissande hatte
das Versprechen zu schweigen abgelegt und es ein volles Jahr gehalten, um sich
der Aufnahme in den Orden würdig zu erweisen, aber die Äbtissin, die in anderer
Hinsicht sehr vernünftig war, schien noch immer nicht zufrieden.
    Vielleicht
hegte sie ja den Verdacht, daß ihr Schützling nicht ganz aufrichtig zu ihr
gewesen war.
    »Du darfst
sprechen, Melissande«, sagte sie jetzt. »Ich entbinde dich von deinem Schwur.«
    Melissande
biß sich auf die Unterlippe. Sie war nicht sicher, ob sie nach zwölf Monaten,
in denen kein einziges Wort über ihre Lippen gekommen war, auch nur einen Ton
hervorbringen würde, selbst wenn sie es wollte. Vor allem aber weckte
Christians bedenklicher Zustand die Furcht in ihr, Gottes Zorn auf sich herabzurufen,
wenn sie ihr Gelübde brach. Selbst die Äbtissin, in all ihrer Güte und
Weisheit, konnte Melissande nicht von diesem Eid befreien, denn er war etwas
ganz Persönliches, eine Art spiritueller Pakt zwischen einem unwürdigen
Menschenwesen und der Heiligen Mutter Gottes selbst.
    Die
Äbtissin schien nicht erfreut, als Melissande nicht antwortete, beharrte aber
nicht auf ihrem Vorschlag.
    Auf dem
Bett wand Christian sich vor Schmerzen und rief einen Namen, an den Melissande
sich gut erinnerte – er rief seinen Freund und treuen Diener Robert. Zärtlich
strich sie dem Geliebten mit einer Hand das Haar zurück und wischte mit der
anderen eine Träne aus ihrem Augenwinkel.
    »Bleib bei
ihm sitzen, solange du willst«, sagte Mutter Erylis zu Melissande, als Bruder
Nodger kurz darauf erschien. Und dann ging die alte Nonne, weil sie außer Beten
für den Verwundeten nichts mehr tun konnte.
    Melissande
blieb und obwohl ihre Kehle vor Schmerz wie zugeschnürt war und ihre Augen
brannten, wandte sie keine Sekunde lang den Blick von Christian, aus Angst, daß
er ihr entgleiten könne in jene andere Welt, um sie erneut allein in dieser
hier zurückzulassen. Ihn einmal zu verlieren, war beinahe ihr Ruin gewesen; ihn
ein zweites Mal gehen zu lassen, hätte sie mit Sicherheit zerstört.
    Bruder
Nodger, ein kleiner, einfacher Mann mit grauem Haar und einer Nase, die so
breit und rund war, daß sie schon grotesk wirkte, warf dem Mädchen einen
neugierigen Blick zu, versuchte aber nicht, es fortzuschicken. Statt
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