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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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Uniform anlegt, und nichts macht ihn glücklicher als die Erlaubnis, seine Stiefel wichsen zu dürfen. Er steckt seinen Arm bis zur Schulter in den Schaft, verteilt sorgfältig die Schuhcreme und benutzt für jeden Arbeitsschritt die eigens dafür vorgesehenen Bürsten und Lappen jener Ausstattung, die Wenjamins halben Koffer ausfüllt, wenn er zu einem Einsatz geschickt wird, und sein Sohn packt sie aus, sortiert sie wieder ein und hält sie sorgfältig in Ordnung, während er den glorreichen Tag herbeisehnt, an dem er selbst eine solche Ausrüstung besitzen wird. Die einzigen Männer, die er dieses Namens für würdig befindet, sind die Militärs, und die einzigen Kinder, mit denen er Umgang pflegt, die Kinder von Militärs. Er kennt auch keine anderen: Die Familien der Offiziere und Unteroffiziere, die im Wohnblock des NKWD in der Straße der Roten Armee wohnen, verkehren nur untereinander und halten wenig von den Zivilistentypen, diesen jämmerlichen, disziplinlosen Kreaturen, die ohne Vorwarnung mitten auf dem Gehsteig stehen bleiben und so einen Soldaten zwingen von seinem Kurs abzuweichen, der mit vorschriftsmäßigem, geregeltem, kräftigem Schritt und einem Tempo von sechs Stundenkilometern marschiert: Eduard wird zeit seines Lebens so gehen.
    Zum Einschlafen erzählt man den Kindern aus der Straße der Roten Armee Geschichten vom Krieg, den die Russen nicht wie wir den Zweiten Weltkrieg nennen, sondern den Großen Patriotischen Krieg, und ihre Träume sind voll von einstürzenden Schützengräben, toten Pferden und Kameraden, deren Köpfe vor den eigenen Augen von Granatsplittern abgerissen werden. Diese Geschichten begeistern Eduard. Doch er bemerkt auch, dass sein Vater etwas verlegen wirkt, wenn seine Mutter sie ihm erzählt. Nie ist in diesen Geschichten die Rede von ihm und seinen Heldentaten, sondern nur von denen seines Onkels, Rajas Bruder, und der kleine Junge traut sich nicht zu fragen: »Und du, Papa, bist du nicht auch im Krieg gewesen? Hast du nicht auch gekämpft?«
    Nein, er hat nicht gekämpft. Die meisten Männer seines Alters haben dem Tod ins Gesicht gesehen. Der Krieg, wird sein Sohn später schreiben, hat auf sie gebissen wie auf eine dubiose Münze, und sie wissen, dass sie kein Falschgeld sind, denn sie haben nicht nachgegeben. Nicht so sein Vater. Er ist nicht dem Tod von der Schippe gesprungen. Er hat den Krieg im Hinterland verbracht, und seine Frau lässt kaum eine Gelegenheit aus, ihm das unter die Nase zu reiben.
    Sie ist hart, stolz auf ihren Rang und jeder Form von Rührung feindlich gesinnt. Stets ergreift sie Partei gegen ihren kleinen Jungen und für seine Widersacher. Wenn er geschlagen wird, tröstet sie ihn nicht, sondern gratuliert dem Angreifer: Nur so wird ein Mann aus ihm werden und kein Weichei. Zu Eduards ersten Erinnerungen gehört, mit fünf Jahren an einer schweren Mittelohrentzündung gelitten zu haben. Eiter quoll aus seinen Ohren, und mehrere Wochen lang war er taub. Auf dem Weg zur Ambulanz, in die seine Mutter ihn brachte, musste man Eisenbahnschienen überqueren. Ohne ihn hören zu können, sah er einen Zug heranbrausen, er sah den Dampf und die Geschwindigkeit des schwarzen Metallmonsters, und plötzlich überkam ihn eine irrationale Angst, seine Mutter wolle ihn unter dessen Räder werfen. Er fing an zu schreien: »Mama! Liebe, liebe Mama! Wirf mich nicht unter die Räder! Bitte, wirf mich nicht unter die Räder!« Als er davon erzählt, besteht er auf der Wichtigkeit des »bitte«, als habe einzig diese Höflichkeitsformel seine Mutter damals von ihrem finsteren Vorhaben abgebracht.
    Als ich Eduard dreißig Jahre später in Paris kennenlernte, sagte er gern, sein Vater sei ein KGB -Agent gewesen, denn er wusste, dass dies im Westen wie eine kalte Dusche wirkte. Einmal, nachdem er diesen Effekt ausgekostet hatte, machte er sich über uns lustig: »Hört auf, euch einen Horrorfilm auszumalen, mein Vater war praktisch nichts anderes als ein Polizist, mehr nicht.«
    Wirklich nicht mehr?
    Kurz nach der Revolution, zur Zeit des Bürgerkriegs, war Trotzki gezwungen, als Führer der Roten Armee Elemente aufzunehmen, die der kaiserlichen Armee entstammten; diese waren Berufsmilitärs und Waffenspezialisten, doch sie waren »bürgerliche Spezialisten« und als solche wenig vertrauenswürdig, und um sie zu kontrollieren, ihre Befehle gegenzuzeichnen und sie kaltzumachen, falls sie aufmuckten, schuf er einen Korps von Staatssicherheitskommissaren. So entstand das
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