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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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einer der eleganten Gäste des eleganten New Yorker Hotels. Er fragte sich, ob es noch viele andere Menschen auf der Welt gebe wie ihn, Eduard Limonow, deren Erfahrung solch unterschiedliche Universen einschließt wie die eines Strafgefangenen in einem Zwangsarbeitslager an der Wolga und die eines angesagten Schriftstellers, der in einem Dekor von Philippe Starck herumspaziert. Nein, schlussfolgerte er, mit Sicherheit nicht, und er bezog daraus einen Stolz, den ich nachvollziehen kann und der mir sogar den Impuls gab, dieses Buch zu schreiben.
    Ich lebe in einem ruhigen, abweisenden Land, das soziale Mobilität nur begrenzt zulässt. In einer großbürgerlichen Familie aus dem XVI ten Arrondissement von Paris geboren, bin ich ein Angehöriger der bürgerlichen Boheme des Xten geworden. Als Sohn eines Angestellten in Führungsposition und einer renommierten Historikerin schreibe ich Bücher und Drehbücher, und meine Frau ist Journalistin. Meine Eltern besitzen ein Ferienhaus auf der Île de Ré, ich selbst würde gern eines im Département Gard kaufen. Ich halte das für nichts Verwerfliches und denke nicht, dass es Rückschlüsse auf den Reichtum an menschlicher Erfahrung zuließe, aber sowohl vom geographischen als auch vom soziokulturellen Standpunkt aus gesehen kann man nicht gerade behaupten, dass mich das Leben sehr weit von meinen Wurzeln weggeführt hat, und diese Beobachtung gilt auch für die meisten meiner Freunde.
    Limonow dagegen war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds , Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt, in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus, ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados. Er selbst sieht sich als Helden, man kann ihn auch als einen Drecksack betrachten: Ich selbst behalte mir mein Urteil vor. Aber nachdem ich die Anekdote von den Waschbecken in Saratow zunächst einfach nur kurios fand, schien mir, sein romanhaftes, gefährliches Leben erzähle etwas. Nicht nur über ihn, Limonow, und nicht nur über Russland, sondern über unser aller Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
    Etwas, ja, aber was? Ich beginne dieses Buch, um es zu begreifen.

I

Ukraine,
1943–1967

1
    Die Geschichte beginnt im Frühjahr 1942 in einer Stadt an den Ufern der Wolga, die vor der Revolution Rastjapino hieß und seit 1929 den Namen Dserschinsk trägt. Dieser neue Name wurde ihr zu Ehren von Felix Dserschinski verliehen, einem Bolschewiken der ersten Stunde und Gründer des Sicherheitsdienstes, der zunächst Tscheka hieß, dann GPU , schließlich NKWD , später KGB und der heute FSB genannt wird. Wir werden ihm in diesem Buch unter den drei letzten dieser unheilverkündenden Abkürzungen begegnen, aber die Russen sagen unabhängig von den jeweils gültigen Bezeichnungen noch verhängnisvoller: organy , die Organe. Der Krieg tobt, die Schwerindustrie ist abgebaut und vom Zentrum der Kriegshandlungen ins Hinterland verlegt worden. So beschäftigt eine Waffenfabrik die gesamte Bevölkerung von Dserschinsk und lässt außerdem Truppen des NKWD mobil machen, um diese zu überwachen. Die Zeiten sind heroisch und unerbittlich: Einen Arbeiter, der fünf Minuten zu spät kommt, stellt man vor das Kriegsgericht, und es sind die Tschekisten, die einsperren, verurteilen und gegebenenfalls mit einer Kugel in den Nacken die Exekution ausführen. Eines Nachts kommen mehrere Messerschmitts als Späher vom Unterlauf der Wolga und werfen Bomben über der Stadt ab; einer der Soldaten, die rund um die Fabrik Wache schieben, leuchtet mit seiner Taschenlampe einer jungen Arbeiterin den Weg: Sie ist spät von der Arbeit gekommen und hastet in einen Unterschlupf. Sie stolpert und hält sich an seinem Arm fest. Auf ihrem Handgelenk entdeckt er eine Tätowierung. In der Dunkelheit, die vom Feuerschein der Großbrände in Glut getaucht wird, kommen sich ihre Gesichter näher. Ihre Lippen berühren sich.
    Der Soldat Wenjamin Sawenko ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er kommt aus einer Familie ukrainischer Bauern. Als geschickter Elektriker wurde er vom NKWD rekrutiert, der in allen Bereichen die besten Elemente auswählt, und dieser Tatsache verdankt er es, dass er sich nicht an der Front befindet wie die meisten jungen Männer seines Alters, sondern der Bewachung einer Waffenfabrik im Hinterland zugeteilt wurde. Er ist weit weg von zu Hause,
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