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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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ihrem Baby auf dem Rücken in der Stadt unterwegs, als die Luftwaffe beginnt, Bomben abzuwerfen. Sie findet Schutz in einem Keller mit einem Dutzend von Leuten, manche stehen unter Schock, andere sind völlig apathisch. Der Boden und die Wände beben, sie versuchen, dem Gehör nach zu bestimmen, in welcher Entfernung die Bomben fallen und welche Gebäude sie zerstören. Der kleine Eduard beginnt zu weinen und zieht damit erst die Aufmerksamkeit und dann die Wut eines Typen auf sich, der mit zischender Stimme erklärt, die Scheißdeutschen hätten zum Aufspüren von lebenden Objekten ultramoderne Techniken, die auf die leisesten Geräusche reagierten: Das Kindergeheul werde sie alle umbringen. Er hetzt die anderen derart auf, dass sie Raja hinauswerfen und diese gezwungen ist, unter dem Bombenhagel einen anderen Unterschlupf zu suchen. Rasend vor Wut sagt sie sich und ihrem Baby, dass alles, was man ihm einmal über gegenseitige Hilfe, Solidarität und Brüderlichkeit erzählen werde, ein Witz sei. »Die Wahrheit ist, dass die Menschen feige Dreckskerle sind und dass sie dich töten, wenn du nicht bereit bist, als erster loszuschlagen, vergiss das nie, kleiner Editschka.«
    2
    Kurz nach Kriegsende nennt man Städte nicht Städte, sondern »Bevölkerungskonzentrationen«, und die junge Familie Sawenko führt, den Zuteilungen folgend, über die sie nie selbst entscheidet, ein Leben in Kasernen und Barackenlagern in verschiedenen Bevölkerungskonzentrationen an der Wolga; dann siedelt sie sich im Februar 1947 in Charkow in der Ukraine an. Charkow ist ein großes Industriezentrum und ein wichtiger Knotenpunkt des Schienenverkehrs, weshalb sich Deutsche und Russen heftig darum stritten, es einnahmen, zurückeroberten und wechselseitig besetzten, wobei sie die Bewohner niedermetzelten und am Ende des Kriegs nichts als ein Ruinenfeld zurückließen. Das konstruktivistische Betongebäude, das in der Straße der Roten Armee die Offiziere des NKWD und ihre Familien beherbergt – die mit der Bezeichnung »unterhaltsberechtigte Personen« beehrt werden – blickt auf das, was einstmals der imposante Hauptbahnhof war und nun ein Chaos aus Steinen, Ziegeln und Metall ist, umgeben von einem Bretterzaun, den zu besteigen verboten ist, denn in dem Schutt dahinter liegen außer Kadavern von deutschen Soldaten auch Minen und Handgranaten: Einem kleinen Jungen wurde bereits eine Hand abgerissen. Trotz dieses Beispiels unternimmt die Bande von Gören, denen Eduard sich anschließt, vermehrt Streifzüge durch die Ruinen; sie suchen nach Patronen, streuen das darin enthaltene Schießpulver auf die Schienen der Straßenbahn und erzeugen auf diese Weise Knattersalven, Feuerwerke und einmal sogar eine legendär gewordene Entgleisung. Die älteren unter ihnen erzählen während der Abendstunden schauerliche Geschichten: von toten Deutschen, die in den Ruinen spuken und Unvorsichtigen auflauern, von Kesseln in Kellern, in denen man Kinderfinger findet, von Kannibalen und vom Handel mit Menschenfleisch. Es ist eine Zeit des Hungers, zu essen gibt es nichts als Brot, Kartoffeln und vor allem Kascha , eine Buchweizengrütze, die bei den ärmeren Russen zu jeder Mahlzeit auf den Tisch kommt, und manchmal auch bei wohlhabenden Parisern wie mir selbst, die sich einbilden, sie wohlschmeckend zubereiten zu können. Wurst ist ein seltener Luxus, Eduard ist so versessen darauf, dass er davon träumt, Metzger zu werden, wenn er groß ist. Es gibt keine Hunde, keine Katzen, keine Haustiere, sie wären längst schon aufgegessen worden; von Ratten dagegen wimmelt es nur so. Zwanzig Millionen Russen hat der Krieg getötet, aber weitere zwanzig Millionen müssen ohne Dach über dem Kopf der Nachkriegszeit trotzen. Die meisten Kinder haben keine Väter mehr; die meisten Männer, die überlebt haben, sind Invaliden. An jeder Straßenecke trifft man auf Einarmige, Einbeinige oder ganz und gar beinlose Krüppel. Ebenso sieht man überall Kinderbanden, die auf sich selbst gestellt sind, Kinder von Eltern, die im Krieg geblieben sind, oder Kinder von Feinden des Volks, ausgehungerte Kinder, die wieder zu Wilden werden, in gefährlichen Horden herumziehen und klauen und morden – und deretwegen man das straffähige Alter, und das heißt das Alter für die Todesstrafe, auf zwölf Jahre herabsetzt.
    Der kleine Junge bewundert seinen Vater. Er liebt es, ihm am Samstagabend beim Schmieren seiner Dienstwaffe zuzusehen, er liebt es, ihm zuzuschauen, wenn er seine
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