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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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nachhaltig war. Speziell, wenn es sich um erhebende Momente handelte. Sie war sicher, dass diese Qualität, die sie auf dem Gipfel der Kanisfluh gespürt hatte, ihr Flügel verleihen würde. Obwohl die weiße Feder, die sie gefunden hatte, klein und zart war. Als sie mit ­ihrem Auto ins Tal fuhr, Ella mit ihrem breiten Jeep schützend vor ihr, spürte sie noch in jeder einzelnen Zelle die Nachricht aus ihrem Inneren. Doch je näher sie Mellau kamen, desto kleiner wurde das erhabene Gefühl, und als die bodenständigen Bregenzerwälder Häuser auftauchten, hatte die Sorge über die Konsequenzen ihrer Entscheidung schon ein Zimmer bei ihr bezogen.
    Die erste Prüfung war ihre Familie. Sie fühlte sich befangen und in einer Mischung aus Aufbruchstimmung und schlechtem Gewissen ihren Kindern gegenüber wusste sie nicht, was und ob sie etwas sagen sollte. Sie saß mit ihnen bei ihrer Mutter am Tisch und sah sie zum ersten Mal seit Jahren mit anderen Augen. Lea war auf dem Weg zu einer erwachsenen Frau und stand vom Tisch auf, noch ehe der Nachtisch kam – Apfelküchle, von der Oma selbst gebacken. Sie hatte es eilig, weil sie zu einer Party nach Bezau wollte, die ihre beste Bregenzerwälder Freundin gab. Niklas ließ die „Alten“ ebenfalls zurück und zog es vor, dem Nachbarn dabei zu helfen, sein Moped zu reparieren.
    Es war, als ob der Schleier, der sich hob, auch ihre unmittelbare Umgebung in einem neuen Licht zeigte. So viele Jahre waren die Kinder und sie eine Einheit gewesen. Zusammengeschweißt durch ein schweres Schicksal. Es hatte ein starkes Wir gegeben, das jetzt auf ganz natürliche Weise auseinanderbröckelte. Lilly würde der Fels in der Brandung für Lea und Niklas bleiben. Für sie da sein, wenn sie gebraucht wurde. Und gleichzeitig lösten sich die engen Bande auf fast erschreckende Weise einfach auf.
    Lilly ging in die Küche, machte den Abwasch und dachte weiter über ihr Leben nach. Dann trocknete sie sich die Hände ab, wünschte ihrer Mutter eine gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück.
    4. September 1997
    Noch immer dieser eine Tag. Ich wusste nicht, dass so viel in so wenigen Stunden Platz haben kann. Es wird Zeit, dass ich zu mir selber und zu meinem Tagebuch ehrlich bin.
    Ich schlafe seit zwei Jahren mit einem anderen Mann. Er ist verheiratet, so wie ich, und lange Zeit war klar, dass wir einfach unsere Defizite auffüllen. Nach Zärtlichkeit, nach Gesprächen, die nichts mit Alltag zu tun haben.
    Ich weiß, dass ich Oskar nicht verlasse, weil es den anderen gibt. Ich würde auch gehen, wenn ich allein wäre. Das ist mir wichtig. Niemand anderer außer ich selbst soll etwas mit meiner Entscheidung zu tun haben.
    Ich muss frei sein. Und aus meiner Freiheit heraus ist vieles möglich. Verbundensein, Getrenntsein.
    Oskar weiß nichts von ihm. Aber ich weiß, dass er es ahnt. Wie sagt man einem Mann, dass man ihn verlässt, während er im Gefängnis sitzt, und dass es dennoch nichts mit einem anderen Mann zu tun hat? Oder doch. Aber auf andere Weise. Und ist es überhaupt möglich, jemanden in so einer Situation zurückzu­lassen?
    Ich stelle mich vor den Spiegel und übe den Satz: „Oskar, ich werde dir immer verbunden bleiben, ich danke dir für die wunderbaren Kinder, aber ich liebe dich nicht mehr und bitte dich um die Scheidung.“
    Der Satz ist wahr, ich kann ihn gut sagen, aber er passt nicht in das Umfeld. Ich sehe mich, wie ich anschließend vom Tisch im Besucherraum aufstehe und Oskar von einem Beamten zurück in die Zelle geführt wird. Dort wird er allein sein und niemanden haben, der ihn tröstet und an den er denken kann.
    Es geht nicht.
    Aber was dann?
    Soll ich die nächsten Jahre so tun, als ob nichts wäre?
    Ihn besuchen und jedes Mal mit einer Lüge den Raum ver­lassen?
    â€žIch liebe dich“, habe ich zum Abschied immer gesagt. Wenn ich dieses Bekenntnis in Zukunft weglasse, werden alle Alarm­glocken bei ihm klingeln.
    Wer immer den Satz erfunden hat: „Die Wahrheit macht frei“, hat sicher nicht an all jene gedacht, deren persönliche Freiheit durch Gitterstäbe beschränkt ist. Die nicht, so wie wir draußen, für eine Weile ihre Wunden lecken können und sich dann neu orientieren.
    Der Alltag deckte alles zu. Das Gute und das Schwierige. Nun ging es um vollständig ausgerüstete Schultaschen, neue
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