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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Flötensonaten zweitklassiger und vor allem neuentdeckter Meister dieser Periode anhaftet, sich in
diesem Falle damit erklärt, daß Antonio Giambattista Bloch niemals gelebt hat, die hier aufgeführten Werke also aus der Feder des
Forschers Weltli stammen. Obgleich sich dieser
Umstand erst viel später herausgestellt hat, kann ich nicht umhin, es
nachträglich als ein wenig entwürdigend für die Marchesa zu empfinden, daß sie ihre letzten Minuten mit der - allerdings meisterhaften —
Interpretation einer Fälschung verbracht hat. Während des zweiten Satzes der f-moll-Sonate sah ich eine Ratte an der Wand entlang
huschen. Das erstaunte mich. Zuerst dachte ich, das Flötenspiel habe sie
angelockt, denn Ratten sind bekanntlich sehr musikalisch, aber sie huschte in
der entgegengesetzten Richtung, floh also die Musik. Ihr folgte eine zweite.
Ich sah auf die anderen Gäste. Sie hatten nichts bemerkt, zumal die meisten die
Augen geschlossen hielten, um sich in seliger Entspannung den Klängen der Weltlischen Fälschung hingeben zu können. Nun vernahm ich
ein dumpfes Rollen, es klang wie sehr fernes Donnern. Der Fußboden vibrierte.
Wieder sah ich auf die Gäste. Wenn sie etwas hörten — und irgend etwas mußten
wohl auch sie wahrnehmen — war es aus den Posen beinahe formloser Versunkenheit
jedenfalls nicht ersichtlich. Mich aber beunruhigten diese merkwürdigen
Symptome.
    Ein Diener trat leise ein. Daß er in
der vornehmen, streng geschnürten Livree, die das gesamte Personal der Marchesa trug, wie eine Nebenrolle aus »Tosca« aussah,
gehört nicht hierher. Auf Zehenspitzen hüpfte er auf die Vortragenden zu und
flüsterte der Marchesa etwas ins Ohr. Ich sah sie
erblassen — es war recht kleidsam im matten Kerzenlicht, und beinahe hätte man
denken mögen, es sei in das Zeremoniell liebevoll eingeplant — aber sie faßte
sich und führte gelassen das Andante zu Ende, ohne ihr Spiel zu unterbrechen,
schien sogar die Endfermate noch um einiges zu verlängern. Dann gab sie dem
Flötisten einen Wink, stand auf und wandte sich an die Zuhörer.
    »Meine verehrten Gäste«, sagte sie,
»wie ich soeben erfahre, lösen sich die Fundamente der Insel und damit des
Palastes. Die Meerestiefbaubehörden sind benachrichtigt. Ich glaube jedoch, daß
es in unser aller Sinne ist, wenn wir mit der Musik fortfahren .« Ihre würdevollen Worte wurden von lautlosen Gesten der
Zustimmung belohnt.
    Sie setzte sich wieder hin, gab
Monsieur Béranger das Zeichen, und nun spielten sie das Allegro con brio, den
letzten Satz, der mir, obgleich ich damals noch nicht wußte, daß es sich um
eine Fälschung handle, der Einmaligkeit der Situation nur wenig gerecht zu
werden schien.
    Auf dem Parkett bildeten sich kleine
Pfützen. Das Rollen hatte zugenommen und klang näher. Die meisten Gäste hatten
sich inzwischen aufgerichtet, und mit ihren bei Kerzenbeleuchtung aschfahlen
Gesichtern saßen sie wie in geduldiger Erwartung eines Bildners, der sie in
Posen letzter, euphorischer Fassung für eine bewundernde Nachkommenschaft
verewigen werde.
    Ich aber stand auf und sagte, »ich
gehe«, leise genug, um die Musiker nicht zu verletzen, aber laut genug, um den
anderen Gästen zu bedeuten, daß ich mutig genug war, mein plötzlich
wachgewordenes Gefühl der Distanz einzugestehen. Auf dem Fußboden stand nun ein
fast gleichmäßig verteilter Wasserspiegel. Obgleich ich beim Hinausgehen auf Zehenspitzen
trat, wurden meine Füße naß, und ich konnte es auch nicht vermeiden, daß,
während ich vorsichtig meinen Weg bahnte, einige Abendkleider mit Wasser
bespritzt wurden. Aber dieser Schaden war ja nun, in Anbetracht dessen, was
bald kommen würde, unerheblich. Wenige der Gäste würdigten mich — unter kaum
gehobenen Lidern — eines Blickes, aber das war mir gleichgültig, ich gehörte
nicht mehr dazu. Als ich die Flügeltür öffnete, stürzte eine Flutwelle in den
Raum und veranlaßte Lady Fitzwilliam (die Pflegerin
keltischen Brauchtums), ihren Pelzmantel fester um die Schultern zu ziehen,
zweifelsohne eine Reflexhandlung, denn nützen konnte es ja nichts. Bevor ich
die Tür hinter mir schloß, sah ich noch Herrn von Perlhuhn (den Neo-Mystiker, nicht den Abraham-a-Santa-Clara-Forscher ) mir einen halb
verächtlichen, halb traurigen Blick zuwerfen, als habe er die schmerzliche
Pflicht übernommen, mir die allgemeine Enttäuschung widerzuspiegeln. Er saß nun
beinah bis zu den Knien im Wasser, wie auch die Marchesa ,
die nicht mehr in der Lage war,
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