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Lieblingsmomente: Roman

Lieblingsmomente: Roman

Titel: Lieblingsmomente: Roman
Autoren: Adriana Popescu
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das unendlich viele Mails. Mit den Fahrradkurieren Stuttgarts habe ich ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Schnell, freundlich und zuverlässig.
    Schon nach wenigen Minuten klingelt es. Ich drücke auf den Summer und packe alles in ein kleines Päckchen, bevor ich mich zur Tür drehe und fast alles wieder fallen lasse.
    Auch das Pflaster über dem linken Auge kann ihn nicht so sehr verändern, dass ich ihn nicht sofort wiedererkennen würde. Es ist ganz ohne Zweifel Tristan! Er trägt kurze braune Baggypants, dazu ein schwarzes T-Shirt und einen Rucksack. Hier in meinem kleinen Büro wirkt er auf einmal noch größer als am Samstag. Er muss knapp zwei Meter groß sein. Er grinst mich breit an, und in mir beginnt es sofort zu flattern. Verdammt.
    »Layla! So schnell sieht man sich wieder.«
    »Ja. Das ist ja … lustig.«
    Dann herrscht Schweigen. Er lächelt gut gelaunt vor sich hin, und die kleinen Käfer in meinem Kopf drehen Loopings. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und starre ihn deshalb einfach weiterhin mit großen Augen an. Seine Haare sitzen heute etwas anders, sind durch den Fahrradhelm platt gedrückt, aber sonst sieht er unverändert aus. Wieso mich das überrascht, weiß ich nicht, immerhin sind gerade mal zwei Tage vergangen.
    Ich klammere mich an das kleine Päckchen in meiner Hand und weiß, dass einer von uns schon langsam etwas sagen sollte.
    »Wie … geht es dem Auge?«
    Er fasst sich automatisch an die Schläfe.
    »Ganz gut. Drei Stiche. Der Arzt meinte, es sei klug gewesen, dass ich es sofort desinfiziert habe.«
    »Na, sag ich doch.«
    »Ich weiß.«
    Das ist doch schon mal etwas. Als Krankenschwester mache ich also eine bessere Figur als jetzt hier beim Small Talk in meinem plötzlich viel zu engen Büro. Während ich weiterhin wie versteinert dastehe, beginnt Tristan, sich in meinem kleinen Reich umzusehen. Sein Blick bleibt bei den Fotografien an der Wand hinter meinem Schreibtisch hängen, und plötzlich ist es nicht nur zu eng, sondern auch viel zu heiß hier drinnen. Er macht einen Schritt auf die Bilder zu und betrachtet sie konzentriert.
    »Alle von dir?«
    »Ja, das sind meine Angeberfotos.«
    Es stimmt. Ich habe nur die schönsten und besten Fotos ausgewählt, um sie hier zur Schau zu stellen. Sie sind nicht nur dazu da, mögliche Kunden zu beeindrucken, sondern vor allem eine Art Motivation. Sie erinnern mich daran, dass ich noch etwas anderes kann, als betrunkene Teenager auf Partys zu knipsen. Er bleibt vor meinem Lieblingsbild stehen und betrachtet es eine kleine Weile. Ich stehe weiterhin einfach da – und bin nervös, denn ich bin verwundbar, wenn es um dieses Bild geht. Auf dem gerahmten großformatigen Schwarz-Weiß-Foto sieht man eine alte Frau. Sie sitzt auf einer Bank am Ufer des Gardasees, einen Gehstock in beiden Händen vor sich, das Kinn aufgestützt, der Blick geht in die Ferne. Es ist meine Großmutter. Ich habe das Foto vor ein paar Jahren aufgenommen, als wir sie besucht haben, kurz nach dem Tod meines Großvaters. Meine Großmutter und ich haben den Nachmittag zusammen verbracht, und sie hat mir erzählt, wie sie vor langer Zeit meinen Großvater kennengelernt und sich in ihn verliebt hat. Er aus Verona, sie aus Malcesine. Aus Liebe ist er dann zu ihr an den Lago gezogen. Als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, war sie kurz still, hat auf den See geblickt und an die große Liebe ihres Lebens gedacht. Selten habe ich so viel Wärme und Liebe in ihrem Blick gesehen, und nie habe ich meine Großmutter mehr geliebt als in diesem Augenblick. Mit klopfendem Herz und zittrigen Fingern habe ich den Moment für immer festgehalten. Ob für sie oder für mich, kann ich nicht sagen.
    Da ich das Bild schon stundenlang angestarrt habe, betrachte ich jetzt lieber Tristan, der ganz nah an das Foto herantritt und sich vorbeugt, um es genauer zu studieren. Er muss noch mehr für seinen Körper tun als nur das Radfahren an der frischen Luft. Seine gesunde Bräune hat er aber wohl von seiner Tätigkeit als Kurier. Das sieht nicht wie das Ergebnis von Aufenthalten in Solariumskäfigen aus. Ich sehe, wie die Haut in seinem Nacken kleine Falten wirft, und kann mich plötzlich wieder genau daran erinnern, wie er riecht. Allein bei dem Gedanken daran beginnt ein Schwarm Schmetterlinge damit, in meinem Bauch langsam seine Runden zu drehen. Miese Verräter.
    »Das hier finde ich wunderschön.«
    »Danke. Es ist schon alt.«
    Schnell blicke ich wieder auf das Portrait
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