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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
Autoren: Zeruya Shalev
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angreifen, unseren Streit fortsetzen will, aber seine Stimme wird plötzlich erschreckend laut, ich habe Michals Leben zerstört, und jetzt zerstöre ich deins, ich darf mit keiner Frau zusammenleben, ich darf keine Kinder aufziehen, ich darf keine Kranken behandeln, sein Rücken krümmt sich unter heftigem Schluchzen, und als ich die Tür schließe und vor ihm stehe, hilflos, gestützt auf meinen Stock, erinnere ich mich an einen fernen rosigen Morgen am Ende des Sommers, als ich in der Tür meines Vaters stand, die Blätter der Palme im Fenster blitzten wie silberne Messerschneiden, und ich sagte zu seinem über den Schreibtisch gebeugten Rücken, Papa, ich verlasse das Haus, ich ziehe ins Studentenheim, überzeugt, dass er mir mit offizieller Stimme Erfolg wünschen und den Blick kaum von seinem Buch heben würde, aber zu meiner Überraschung stand er auf, warf sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in einem Kissen, sein Rücken zitterte, und ich stand mit offenem Mund da, das hatte ich noch nie gesehen, ich hatte nicht geglaubt, dass ihn neben seinen kosmischen Betrachtungen irgendetwas interessiert, ich hätte mich am liebsten neben ihn gesetzt und seinen Rücken gestreichelt, und noch lieber hätte ich mich neben ihn auf das Bett geworfen und ebenfalls geweint, geweint über die Liebe, die uns fehlte, wie sehr hat meine Seele die deine verletzt, Papa, und deine die meine, wie sehr sind wir voreinander erschrocken.
    Lange stand ich da, an den Türstock gelehnt, bis ich die Tür hinter mir zumachte und davonging, und jetzt, vor diesem schluchzenden Mann, murmle ich, Oded, beruhige dich, sei nicht so hart zu dir selbst, du hast nichts mit Absicht getan, aber meine Worte verstärken seine Selbstanklage nur noch, alles, was ich anfasse, geht kaputt, ich bin nicht anders als mein Vater, meine Mutter hat immer gesagt, dass ich mich verstelle, dass ich eigentlich genauso bin wie er, nie war ich gut genug für sie, nie war ich eine Entschädigung für das Leid, das er ihr verursacht hat, auch du hast von mir gewollt, dass ich dich für dein Leid entschädige, ich weiß offenbar nicht, wie man das macht, und ich setze mich erschrocken neben ihn auf das Sofa, versuche, seine Schultern zu streicheln, die wie gebrochene Flügel beben, meine Hände fahren verwirrt über seinen Rücken, so kennen wir uns nicht, bin ich überhaupt bereit, ihn kennen zu lernen?
    Oded, beruhige dich, flüstere ich, du bist deinen Kindern ein wunderbarer Vater, und ich bin sicher, dass du ein guter Therapeut bist, sei nicht so streng mit dir, deine Absichten waren gut, wir sind uns in einer schweren Zeit begegnet, wir haben beide Schutz gesucht, da ist es doch kein Wunder, dass wir zerbrochen sind, aber noch ist nicht alles verloren, zwischen vollkommenem Scheitern und vollkommenem Glück gibt es noch Platz, beruhige dich, ich werde dir helfen, ich spreche so leise, als hätte meine Stimme Angst, von mir gehört zu werden, es tut mir Leid, Oded, ich weiß noch nicht einmal, was genau, komm, steh jetzt auf, gehen wir nach Hause, aber er beruhigt sich nicht, sein Weinen gleicht jetzt einem leisen trockenen Husten, ich möchte hier bleiben, murmelt er, mir geht es zu Hause nicht gut, ich fühle mich dort nicht wohl, wenn die Kinder nicht da sind, und ich beeile mich zu sagen, dann holen wir die Kinder eben, ich hole sie von der Schule ab, und er wimmert, aber ich will nicht, dass sie mich so sehen, das wird sie erschrecken, und ich sage, mach dir keine Sorgen, ich werde ihnen sagen, dass du krank bist, komm erst einmal nach Hause, sage ich noch einmal und merke, dass ich dieses Wort seit langer Zeit zum ersten Mal ernst meine.
    Als wir das Treppenhaus betreten, mache ich das Licht in der Praxis aus und schließe die Tür ab, als wäre das hier eine Fabrik, die in Konkurs gegangen ist und dem Erbarmen der Gläubiger überlassen wird, ich nehme ihn am Arm und führe ihn über die schwarz-weißen Fliesen wie einen alten Mann, der sich verlaufen hat und die Hilfe einer Fremden braucht. Sein Blick unter den schweren Augenbrauen ist gesenkt, die Lippen sind zusammengepresst, sein Rücken ist so verkrampft wie immer, er schreckt ein wenig zurück, als wir die laute Straße betreten, und schützt die Augen mit den Händen gegen die Sonne, ich hänge mich bei ihm ein, und so gehen wir durch den späten Vormittag, im Schatten der schräg gewachsenen Kiefer, wie schmal ihr Stamm ist und wie lang, bis hinauf zu dem dünnen Wipfel, ein einsamer Vogel sinkt
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