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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland
Autoren: Wladimir Kaminer
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Russen zu gewinnen, muss man sich etwas dusselig anstellen und mit einem ausländischen, am besten deutschen Akzent freundlich nach dem Weg fragen. Ausländern helfen die Russen gerne, sie haben Mitleid mit ihnen, denn aus der Sicht der Russen sind alle Ausländer ein bisschen verpeilt. Russen selbst hassen es, von jemandem geführt zu werden, sei es ein Präsident, ein Oktopus oder ein Navigationsgerät. Der Deutsche dagegen überlässt die Führung gerne einer aus seiner Sicht vertrauenswürdigen Person, z.B. seinem Hund, seiner Frau oder seinem Staat. Obwohl sie ihn oft in die falsche Richtung ziehen, bleibt er seiner gewählten Führungsperson bis zum bitteren Ende treu. Das wissen Hunde, Frauen, Politiker und Versicherungsvertreter sehr zu schätzen.
    Diese deutsche Stärke, die gleichzeitig eine Schwäche ist, kommt besonders deutlich in dem bekannten deutschen Märchen Der Rattenfänger von Hameln zum Ausdruck.
Dem Helden dieser Geschichte, einem wandernden Kammerjäger, ist es gelungen, durch einfaches Flötenpfeifen zuerst alle Ratten der Stadt Hameln in Reih und Glied aufzustellen und sie dann in den sicheren Tod, nämlich die Weser, marschieren zu lassen. Später, als die Bewohner von Hameln seine Dienstleistung nicht anständig bezahlen wollten, lockte er auf die gleiche Weise alle Kinder aus der Stadt.
    Bei dieser traurigen Geschichte wird gerne hervorgehoben, dass es hier um die unwiderstehliche Kraft der Musik gehe, obwohl es doch jedem Blinden klar sein müsste, dass es in Wahrheit um eine übertrieben hohe Bereitschaft der Deutschen geht, zusammen zu marschieren, ganz egal wohin. Die Musik spielt dabei keine besondere Rolle. Wäre der Rattenfänger zum dritten Mal in die Stadt gekommen, hätte er mit der gleichen einfachen Melodie nicht nur die Kinder der Bürger von Hameln, sondern auch ihre Frauen, ihre Hunde, ihre Katzen, letzten Endes sie selbst in die Weser geführt, sie wären sicher begeistert hinter ihm her getrampelt.
    Wenn man dieses alte Märchen in die heutige Zeit verlegt, würde man feststellen, der moderne Rattenfänger des Deutschen ist sein Navigationssystem, auch GPS genannt. Dieses wunderbare Gerät, einst für die Nöte des Militärs entwickelt, kann im ständigen Austausch mit Satelliten, die aus dem Weltraum heraus unsere Erde pausenlos beobachten, gefährliche Waffenlabors in Schurkenstaaten erkennen oder einem Autofahrer den kürzesten Weg nach Freising anzeigen. Obwohl aus dem Weltall nicht alle Baustellen
zu sehen sind, hat das Navigationsgerät in kürzester Zeit große Beliebtheit erreicht, und das nicht nur bei Autofahrern. Viele tragen es mit sich, auch wenn sie ohne Auto unterwegs sind. Das tun sie aus Angst, jemand würde ihnen das Navigationsgerät klauen und ihre Lebensroute entschlüsseln. Andere haben es in ihren Telefonen. Die modernen Mobiltelefone haben fast alle ein Navigationsgerät. Das hat zur Folge, dass immer mehr Menschen abbiegen, ohne auf Straßenschilder zu schauen. Stattdessen starren sie auf ihr Handy, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie alle in der Weser landen.
    Es ist oft schwierig, sein Ziel präzise einzugeben, und so kommt es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Mensch und Gerät. Der Mensch glaubt, sein Ziel bereits erreicht zu haben, das Gerät meint jedoch, der Weg gehe noch weiter.
    Neulich aßen wir an einer Raststätte, neben uns saß ein älterer Herr. Ein kleiner Kasten lag vor ihm auf dem Tisch. Kaum hatte der ältere Herr ein Stück Wurst auf der Gabel, fing der Kasten an zu reden.
    »Abfahrt!«, sagte das Gerät laut. »Bei der ersten Gelegenheit biegen Sie nach rechts ab.«
    Dem älteren Herrn wäre beinahe die Wurst aus dem Mund gefallen. Er sprang hoch, nahm den Kasten und lief in großen Schritten zu seinem Auto, um den Anweisungen des Gerätes zu folgen.
    Ich habe das Gefühl, früher wussten die meisten, wohin sie wollten. Heute sind viele unentschlossen, besonders bei schlechtem Wetter oder wenn an ihrem Satelliten Wartungsarbeiten
angesagt sind. Ohne Navi kommen sie nicht mehr vom Fleck. Viele reden mit ihren Navigationsgeräten mehr als mit ihren Familienangehörigen. Bei anderen ersetzen die Navigationsgeräte sogar ihre Familienangehörigen. Eine Bekannte von mir fuhr mit einem Navigationsgerät, das mit der Stimme ihres verstorbenen Mannes zu ihr sprach. Eigentlich hatte sie den Mann noch vor seinem Tod aus Unzufriedenheit mit seinem scheußlichen Charakter verlassen. Er war Gymnasiallehrer, wusste
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