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LIEBES LEBEN

LIEBES LEBEN

Titel: LIEBES LEBEN
Autoren: Kristin Billerbeck
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Ling hat einen guten Geschmack - vielleicht nicht, was Männer oder Kirchengebäude angeht, aber bei Mode schon.
    Der Hochzeitsmarsch beginnt. Ich sehe kein Klavier, aber es klingt wie Live-Musik, und ich ertappe mich dabei, wie ich mich nach Lautsprechern umschaue. Mei Ling erscheint in der Tür. Sie sieht umwerfend aus in dem Kleid, das sie selbst genäht hat - nach einem Modell von Vera Wang, ganz ohne Schnittmuster oder Vorlage. Wer will da behaupten, dass Nähen eine verloren gegangene Kunst ist?
    Mei Ling kommt den Mittelgang entlang. Nicht mit dem typischen Innehalten nach jedem Schritt. Schön wie sie ist und in ihrer praktischen Art trottet sie einfach den Gang entlang. Sie stellt sich neben meinen Bruder und lächelt ihn gelassen an. Er ist dagegen jetzt vollkommen entspannt und hat diesen »Ich habe einen seltenen Vogel gefangen«-Blick, mit dem John Brea immer anschaut.
    Der Pastor ist aus dem Nichts erschienen, und ich frage mich, für was er wohl Pastor ist. Pastor für meditative Wahrnehmung? Oder Joga? Im Internet kann man in drei Minuten ordiniert werden und in Las Vegas noch schneller. Ich habe einmal in einer Spam-Mail ein solches Angebot bekommen.
    »Meine lieben Geschwister«, sagt der Prediger mit tiefer, salbungsvoller Stimme. »Wir sind heute hier versammelt, um David Jeffrey Stockingdale und Mi Linga Wa im heiligen Stand der Ehe miteinander zu verflechten.« Mei Ling , würde ich ihn am liebsten korrigieren. Und verflechten? Das klingt in meinen Ohren etwas wüst. Aber ich schaue zu meinem Bruder hinüber, und der ist absolut gefesselt vom Anblick seiner Braut. Na gut, dann halt verflechten.
    »Die Ehe ist ein heiliger Stand. Die beiden werden zu einer Einheit verflochten.« Er liebt dieses Wort.
    Ich schaue zu Brea hinüber, und die hält die Hände vors Gesicht. Jeder andere mag vielleicht denken, dass sie den Tränen nahe ist, aber ich weiß es besser. Ich weiß, dass sie einen pubertären Lachanfall hat, weil der Prediger verflechten sagt. Und schon geht es los. Ich schaue schnell wieder weg, aber es ist schon zu spät; sie hat mich gesehen.
    In mir steigt ein Kichern auf, das sich nicht unterdrücken lässt. Es ist das Kichern, das nicht wieder aufhört, wenn es einmal angefangen hat, und immer lauter wird, je mehr man versucht, es zu unterdrücken. Ein paar Sekunden lang kann ich es unter Kontrolle halten, aber dann ist es passiert. Wie kann ich nur so kindisch sein? Verflechten ist schließlich nur ein ganz normales Wort. Jetzt schauen alle zu mir, und Brea und ich wagen es nicht, einander noch einmal anzuschauen. Ich beiße mir auf die Lippen, um das Lachen zu unterdrücken.
    Der Pastor schlägt seine Bibel mit einem Knall zu und spricht weiter über das Verflechten zu einer Einheit. Es reicht jetzt! Aber mein Blick verrät mich wohl. Plötzlich öffnet sich in der Decke ein großes Loch, und ein Mann und eine Frau in himmelblauen Trikots schweben umeinander gewickelt wie zwei Schlangen herab. Ich schaue mich um, um festzustellen, ob das, was ich da gerade sehe, echt ist. Und da alle Augen zur Decke gerichtet sind, gehe ich davon aus, dass es echt ist. Zwei spärlich bekleidete Menschen hängen aneinandergeklammert an einem schwingenden Trapez. Es sieht eher nach einer Szene aus Disneys Wunderwelt aus.
    Ich halte es nicht mehr länger aus. Ich kann einfach nicht mehr. Mein Lachen wird immer heftiger und lässt sich nicht mehr verbergen. Das kann doch alles nicht wahr sein!
    Der Prediger fragt, ob ich hinausgehen möchte, und fährt dann fort mit noch mehr Verflechtungen und noch mehr umeinander kriechenden Gliedmaßen in der Luft. Der Prediger bleibt in der Zeit, und nach der Unmenge von weißem Satin draußen im Foyer zu urteilen, muss er sich ranhalten. Die anderen Bräute warten. Mein Bruder und Mei Ling sollen ihre Hochzeitskerze anzünden.
    »Wenn ihr jetzt diese Kerze anzündet, um eure Einheit zu symbolisieren, werden Junien und Patrice dort oben ein Stück aufführen, das die Einheit zweier Seelen darstellen soll.« Junien und Patrice, die anscheinend aus Gummi sind, verknoten sich zu einer riesigen menschlichen Brezel. Ihre übermäßig geschminkten Gesichter sind schmerzverzerrt, um die Dramatik des Augenblicks zu unterstreichen. Ich bewundere sie ehrfürchtig.
    Was wohl Patrice sagt, wenn sie gefragt wird, was sie von Beruf ist? »Äh, ich wickle mich um einen Typ in eng anliegendem Trikot, während wir dabei von der Decke hängen.« Sieht das außer mir denn niemand? Ich
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